David Graeber: Debt

Einzelrezension
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Rezensiert von Ingo Reuter

Einzelrezension
Mit seinem Werk Debt: The First 5000 Years legt Graeber eine umfangreiche dekonstruktivistische Kulturgeschichte der Schulden vor. Seine Untersuchungen beginnt er ausgehend von der verwunderten Erkenntnis, dass die moralische Forderung, man müsse seine Schulden bezahlen, durch Jahrtausende eine so hohe Bindungskraft entfalten konnte. Schuldknechtschaft, Sklaverei, der Verkauf von Töchtern wurden der moralischen Forderung, die eigenen Schulden zu bezahlen, untergeordnet. Graeber zeichnet nun die Geschichte der Schulden und des Umgangs mit Schulden durch die Jahrhunderte in den unterschiedlichsten Gesellschaften nach. Hieraus ergibt sich Schritt für Schritt implizit und am Ende des Buches dann auch explizit die Forderung, endlich, nach so vielen Jahrhunderten geistiger Knechtschaft unter dem moralischen Schuldenimperativ, zu einem neuen veränderten Denken vorzudringen, bzw. zumindest nachzudenken zu beginnen, dass der Imperativ, Schulden seien unter allen Umständen zu begleichen, keine absolute Geltung beanspruchen darf – insbesondere da einige ihre Schulden ohnehin nicht bezahlen, wie man anhand der jüngsten Bankenkrise sehen konnte.

Dabei widerspricht der Grundsatz der totalen Schuldenbegleichung auf basaler Ebene schon dem Prinzip des Lebens selbst: Leben ist in erster Linie verdankte Existenz, und die Schuld gegenüber dem Universum, Gott, den Eltern, d. h. letztlich dem, was man als grundlegend lebensspendend ansieht, ist nicht abzahlbar (67-69). Wo aber die Ideologie der totalen Begleichung Einzug hält, erliegt das Leben einer vollkommenen Quantifizierung und alles basiert schließlich nur noch auf dem Prinzip des Austauschs unter Gleichen (127). Die Gleichheit besteht freilich nur als Grundlage der Forderung. Sie ermöglicht erst die Durchsetzung des Gläubigeranspruchs bis hin zum Verkauf des Schuldners und seiner Familie in die Sklaverei. Der Begriff der Freiheit, so Graeber, taucht also wohl nicht zufällig in einem politischen Dokument aus Sumer, 2350 v. Chr., zum ersten Mal im Zusammenhang eines Schuldenerlasses auf (216).

Im Zweistromland, in Sumer, Babylonien und Assyrien gab es immer wieder solche Schuldenerlasse, die das Fortbestehen der Gesellschaft sicherten, denn wie Graeber an anderer Stelle schreibt: Gesellschaftliche Revolutionen gehen immer mit Schuldenkrisen einher. In Babylonien wurde der Schuldenerlass zum im Frühling stattfindenden Neujahrsfest gewährt als “recreation of the social universe” (217) in Parallele zur Feier von Marduks Schöpfung des physischen Universums, so dass die Schuldenbefreiung symbolisch im kosmologischen Horizont ihre grundlegende und existentielle anthropologische Bedeutung erhält.

Welt und Wirtschaft basieren auf “credit”. Es wird interessant sein, zu verfolgen, wie der mehrdeutige englische Begriff in der bald erscheinenden deutschen Ausgabe des Buches übersetzt werden wird. “Credit” bedeutet nämlich ebenso Kredit, wie Guthaben aber auch Vertrauen, Ansehen, Ehre. Graeber wendet sich gegen den Tauschmythos der Ökonomie seit Adam Smith, nachdem das Geld als Reaktion auf die Grenzen der Tauschwirtschaft entstanden sei. Wirtschaftliche Kooperation habe immer schon auf “credit” beruht, darauf, dass ich eine Sache oder einen Dienst in Anspruch nehme, den ich dann “zurückzahle”, wenn ich in der Lage bin, dem anderen etwas für ihn entsprechend Nützliches zu geben.

Damit aber basiert jeder Handel zuerst einmal auf einem Grundmaß von Vertrauen, auf “Kredit”. Und man kann darin ein anthropologisches Grundmerkmal sehen: Jedem Interagieren liegt zuerst einmal ein basaler “Kommunismus” zugrunde, der erst da verlorengeht, wo das Gegenüber als fremd, flüchtig oder nicht vertrauenswürdig angesehen wird.

Eine Münzprägung kommt nach Graeber erst im sog. Axial Age, der von Karl Jaspers so benannten “Achsenzeit” (800 bis 200 v. Chr.) auf. Die ersten Münzen der Welt scheinen um das Jahr 600 v. Chr. in Lydien geprägt worden zu sein (224). Dieses neue und flexible Zahlungsmittel ermöglicht in größerem Maßstab Armeen zu unterhalten und Soldaten zu bezahlen. Physische Zahlungsmittel und kriegerische Aggression entwickeln sich als Zwillinge. Soldaten bezahlt man nicht auf “credit”.

Graeber zeichnet die Entwicklung der Schuldenfrage durch die Jahrhunderte nach: Über das Marktverständnis des frühen Islam als “network of trust” (277), das Verschwinden der Geldwirtschaft im Mittelalter und die Wiederkehr des “credit” im umfassenden Sinn des Wortes bis zum “Age of the Great Capitalist Empires”, in dem Lord Josiah Charles Stamp (1880-1941), Direktor der Bank of England, die Äußerung zugeschrieben wird, dass das Bankwesen deshalb böse sei, weil es eine Schöpfung aus dem Nichts betreibe. Die Banken spielten Gott. Und gab es im Mittelalter noch eine metaphysische Abneigung gegen die Todsünde der Gier, so entfallen in der Moderne alle ethischen Grenzen (344). Im Putumayo-Skandal (1909-1911) versklavten die britischen Gummi-Importeure in Peru schlicht die dort lebenden Indianer zur Ausbeutung des Gummis, um schließlich in einem Akt der Barbarei die Huitoto-Indianer abzuschlachten. Den Mördern saßen ihre eigenen Schulden im Nacken (349).

Graeber zeigt in seinem Werk noch eine Vielzahl weiterer Zusammenhänge auf, die erstaunen: Die Ausbeutung der neuen Welt durch Menschen wie Cortez hat eine Wurzel im Verlangen Chinas nach immer mehr Silber und Gold als Zahlungsmitteln (308ff.); die Bank of England schafft Papiergeld, um die königlichen Kriegsschulden zu bezahlen (339); der Zusammenbruch der Geldwirtschaft am Anfang des Mittelalters führt zum Niedergang der Städte aber auch zu weniger Ausbeutung der Ärmsten im Vergleich zum Axial Age, da ländliche Herrschaftsstrukturen weniger aufwendig zu unterhalten und weniger gierig sind als prosperierende große Städte.

Das Buch ist kaum zu bändigen in seinem Kenntnisreichtum und den vielfältigen Einsichten in wirtschaftliche Zusammenhänge unterschiedlicher Zeiten und Orte, die es eröffnet. Alle diese Einsichten kulminieren in der Perspektive eines erneuerten metaphysischen und ethischen Denkens: Alles Leben ist verdankt und diese Schuld ist nicht abzahlbar. Deswegen gibt es wichtigere ethische Forderungen als die, dass man stets seine Schulden zu bezahlen habe. Ein neuer Anfang ist nur durch einen Erlass der Schulden möglich. Zu plausibilisieren, dass dies nicht nur für Sumer und Babylonien gilt und galt, sondern auch heute die einzige Rettung vor heftigsten, heute welt-gesellschaftlichen Verwerfungen ist, ist Graeber mit einer so akribischen wie entmythologisierenden und erhellenden Studie angetreten.

Links:

Über das BuchDavid Graeber: Debt: The First 5000 Years. New York [Melville House] 2011, 544 Seiten, $ 24,- (Hardcover).
Deutsche Ausgabe: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart [Klett-Cotta Verlag] 2012, 536 Seiten, 26,95 Euro.
Empfohlene ZitierweiseDavid Graeber: Debt. von Reuter, Ingo in rezensionen:kommunikation:medien, 11. Mai 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/9143
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  1. […] Wenn der evangelische Theologe Ingo Reuter das Buch uneingeschränkt empfiehlt (https://www.rkm-journal.de/archives/9143), ist vielleicht doch Skepsis geboten: Es könnte sich bei Graebers Buch um eine […]