Oliver Hahn, Roland Schröder (Hrsg.): Journalistische Kulturen

Einzelrezension
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Rezensiert von Josef Seethaler

hahn&schröder2008Einzelrezension
Weltweit erlebt die Journalismusforschung derzeit enormen Auftrieb. So wurden etwa in den letzten Jahren mit “Journalism” and “Journalism Studies” gleich zwei einschlägige internationale Fachzeitschriften gegründet. Mit diesem Boom geht eine schon nahezu inflationäre Verwendung des Begriffs “journalistische Kultur” einher, der dadurch Gefahr läuft, vieldeutig und beliebig zu werden. Der von Oliver Hahn und Roland Schröder herausgegebene Sammelband kommt daher nicht nur zur rechten Zeit, sondern leistet mit seinem Ziel einer theoretischen Fundierung und Verortung dieses Konzepts Pionierarbeit. Dies ist auch deshalb verdienstvoll, weil gerade das Konzept der “journalistischen Kultur” sowohl aus der sozial- als auch der kulturwissenschaftlichen Tradition der Kommunikations- und Medienwissenschaften schöpft (um diesen jüngst von Rudolf Stöber als Buchtitel verwendeten Begriff zu verwenden) und damit ganz besonders geeignet scheint, den Mehrwert aus einer fruchtbaren Verbindung beider Traditionen deutlich zu machen.

Der bei Halem in gewohnt solider Aufmachung erschienene Band versammelt – neben der Einführung – 13 deutsch- und englischsprachige Beiträge, die sich um mehrere inhaltliche Schwerpunkte gruppieren: die Kultur- und Sprachsensibilität von Journalismus, das Verhältnis von Journalismus und Schriftstellertum und das Spannungsverhältnis von nationalen und transnationalen Elementen von Journalismuskulturen, ehe die letzten Beiträge wiederum an die erste Perspektive anknüpfen und sich mit der Bedeutung von Sprache und Zeichen als Schlüssel für das Verständnis journalistischer Kulturen befassen.

Unklar ist, warum gerade dem Verhältnis von Journalismus und Literatur mit rund 100 von 270 Seiten die größte Bedeutung beigemessen wird, obwohl gerade die meisten hier vereinten – wenngleich spannend zu lesenden – Aufsätze den notwendigen Anspruch des Konzepts journalistischer Kulturen, komparative Journalismusforschung zu ermöglichen, kaum einlösen: Es bleibt schon dem Leser überlassen, Vergleiche zwischen den bloß aneinandergereihten Selbstverständnissen deutscher, US-amerikanischer und romanischer Dichter-Journalisten zu ziehen. Nun ist es zweifellos so, dass das Verhältnis zum Schriftstellertum für den historischen Ausdifferenzierungsprozess des journalistischen Berufsstandes von entscheidender Bedeutung ist. Unter dieser Perspektive fragt man sich jedoch, warum die Beiträge in keine zeitliche Vergleichsperspektive gerückt wurden. Daher bleibt auch das Potenzial des Konzepts journalistischer Kulturen für diese Dimension komparativer Forschung, nämlich die Erklärung des Gewordenseins gegenwärtiger Phänomene unterbelichtet: Margreth Lünenborgs methodisch herausragender Beitrag über das Verschwimmen der Grenzen zwischen fact und fiction im Fernsehjournalismus wird brav chronologisch den bei Heinrich Heine beginnenden historischen Beiträgen nachgereiht, die Frage nach Bezügen, Bedingtheiten und kulturellen Mustern nicht thematisiert.

Das wäre in einem Sammelband zweifellos die Aufgabe der Herausgeber gewesen. Ihre gemeinsam mit Stefan Dietrich verfasste Einführung skizziert die einzelnen Beiträge bloß, versucht aber nicht, Querbezüge herzustellen. Stattdessen enthält sie eine “Typologie komparativer Konzeptansätze journalistischer Kulturen”, die nicht mehr leistet, als die drei Autoren abschließend selbst feststellen: nämlich aufzuzeigen, dass es sich um ein “bislang inkohärentes und disparates Forschungsfeld” (18) handle. Ob diese Einschätzung aber tatsächlich berechtigt ist, kann schon deshalb nicht nachvollzogen werden, weil die Typologie erklärtermaßen lediglich “selektiv-kursorischen” (10) Charakter hat. Das heißt: Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass wichtige Arbeiten – wie beispielsweise Barbara Pfetschs “Politische Kommunikationskultur” und Paschal Prestons “Making the News: Contemporary Journalism Practices and News Cultures in Europe” – unerwähnt bleiben, wodurch Zweifel an der Aussagekraft der Typologie aufkommen.

Schließlich war es auch keine glückliche Idee, den Sammelband als “Lehrbuch” zu bezeichnen. Diese Ankündigung erweckt die Erwartung einer spezifischen, für die Lehre tauglichen Aufbereitung der Inhalte, die freilich weder formal (Infoboxes, Zusammenfassungen, Fragenkataloge etc.) noch inhaltlich erfüllt wird. So bieten die wenigsten Beiträge einen lehrbuchgemäß gut strukturierten Überblick über den jeweiligen Themenbereich; jene von Andreas Hepp (über transkulturelle Kommunikation) und Thomas Hanitzsch (über den von ihm formulierten komparativen Ansatz in der Erforschung von Journalismuskulturen) gehören zu den Ausnahmen. Die überwiegende Anzahl der Beiträge lässt sich hingegen nicht in ein Lehrbuch-Konzept pressen, was jedoch in keiner Weise ihre Bedeutung für die theoretische Grundlegung des Forschungsfeldes schmälert. Sie sind fast ausnahmslos essenzielle interdisziplinäre Wortmeldungen zu einer längst fälligen Diskussion, und unter dieser Perspektive sollten sie gelesen werden. Schade, dass der Band nicht sorgfältiger herausgegeben und zutreffender “geframt” wurde.

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Über das BuchOliver Hahn, Roland Schröder (Hrsg.): Journalistische Kulturen. Internationale und interdisziplinäre Theoriebausteine. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2008, 269 Seiten, 24,– Euro.Empfohlene ZitierweiseOliver Hahn, Roland Schröder (Hrsg.): Journalistische Kulturen. von Seethaler, Josef in rezensionen:kommunikation:medien, 16. Juni 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/512
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