Andreas A. Riedl: Nachrichtenqualität als journalistischer Prozess

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

“Was ist ‘guter’ Journalismus?” und “Was soll Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft leisten?”. So formuliert der Autor, etwas salopp, die abstrakte, umfassende “Kernfrage“ (21) seiner Dissertation, die nun in Buchfassung vorliegt und bereits zweifach prämiert wurde. Auch wenn diese Fragen sicherlich zu groß sind und daher letztlich nur unzureichend beantwortet werden können, müssen sie – so der Autor – gestellt werden. Denn für die Demokratie wie für den Journalismus sei ihre Beantwortung ebenso existentiell wichtig wie notwendig: Beide unterliegen einem “starken Wandel“ (25). Dieser wird verursacht durch vielerlei externe wie interne Faktoren, vor allem durch die omnipräsente Digitalisierung, für die die (Kommunikations-)Wissenschaft theoretische Erklärungen und empirische Befunde bereitstellen muss. Disziplinär ordnet Riedl seine Studie der journalistischen Qualitätsforschung zu, die in der Kommunikationswissenschaft bekanntlich schon etliche Konjunkturen und Kontroversen gesehen hat. Ihre Aufarbeitung – wie die der Demokratieforschung einerseits und der Handlungsforschung andererseits – bedarf profunder Gründlichkeit, weshalb das Literaturverzeichnis allein schon fast 70 Druckseiten umfasst und die gründliche Belesenheit das Autors indiziert. 

Die theoretische Explikation konkretisiert Riedl anhand der Produktion von Nachrichten, da sie die “zentrale Instanz” (vgl. 21, 360) seien, um demokratische Öffentlichkeit herzustellen. Sie firmieren als Voraussetzungen, Faktoren und Vermittlungsscharniere, um die demokratische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu bewerkstelligen. Obwohl Riedl in den obligatorischen “Limitationen” am Ende des Bandes (vgl. 380ff.) etliche Ungenauigkeiten und Erkenntnisgrenzen seiner Studie konzediert (und damit kritischen Einwendungen vorbeugt) – die hier schon offenkundigen bemerkt und expliziert er nicht: Unter Nachrichten fasst er sämtliche Formen journalistischer Berichterstattung, gleich in welchen Medientypen, -kanälen, Formaten und Genres, obwohl gerade die Nachricht ehemals die formal strengste und möglichst sachlichste, ausgewogenste und für viele auch ‘objektivste’ Form war (und noch ist, wenngleich sie mittlerweile einige Lockerungen erfahren hat).

Die anderen Formate journalistischer Berichterstattung wie Bericht, Reportage, Feature, Porträt, Interview etc. arbeiten, zumal in Boulevardmedien, gemeinhin nach unterschiedlichen Maximen, die die hier gewählten Kriterien der Unparteilichkeit, Sachlichkeit und Wertfreiheit unterlaufen und Emotionalität priorisieren. Ebenso wird es mit Social Media, Plattformen und Streamingdiensten, mit Desinformationskampagnen, Informationsblasen und Echokammern immer fraglicher, von einer mehr oder weniger intakten Öffentlichkeit auszugehen, die von den traditionellen Medien bzw. ‘dem’ Journalismus generiert und bestritten wird, anstatt a priori für verschiedene Bevölkerungsgruppen fragmentierte Öffentlichkeitsforen zu unterstellen, die sich vielfach nahezu gänzlich voneinander abschotten. Riedl thematisiert diese strukturellen Transformationen allgemein (vgl. 25, 382ff.), lässt sie aber in seinen Demokratiemodellen und Qualitätskategorien nicht theoretisch wirksam werden, weshalb manche seiner Argumentationen nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit anmuten.

Im empirischen Teil seiner Studie exemplifiziert Riedl seine theoretischen Deduktionen am Journalismus in Österreich. Das journalistische Angebot dort ist bereits hochkonzentriert, die Qualitätsmedien mit Ausnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind national wie regional ausgedünnt, auch wiederholt politischen Einflussnahmen und zudem als kleinräumig der deutschen Konkurrenz ausgesetzt, wie Riedl unumwunden darstellt (vgl. 160ff). Auch wenn diese Studie Teil des ländervergleichenden Forschungsprojekts “Media Performance and Democracy” war, in dem die Nachrichtenqualität in Österreich, Deutschland und der Schweiz vergleichend untersucht wurde und Riedl bei der Auswertung wiederholt weitere empirische Befunde zur Abstützung ihrer Validität, Reichweite und Generalisierbarkeit heranzog, dürften ihre Befunde zeitlich und territorial begrenzt sein.  

Anders als viele Qualitätskonzepte, die ihre Kriterien von allgemeinen Werten oder Prinzipien ableiten und den journalistischen Produkten normativ oder deduktiv zuschreiben, entwickelt Riedl seine Qualitätskategorien im funktionalistischen Bezug auf spezielle Leistungsanforderungen oder “Potenziale” (360) für drei Demokratiekonzepte. Diese gewinnt er nach gründlicher Sichtung der einschlägigen Forschung mehr oder weniger deliberativ (wie er in besagten “Limitationen” [380] einräumt). Diese Konzeptualisierung bringt angesichts der besagten Transformation und Variabilität von ‘Demokratie’ ohne Frage eine höhere Plausibilität, müsste allerdings konsequenterweise um die Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums bzw. der Publika erweitert werden – was theoretisch wie empirisch sicherlich noch komplizierter werden dürfte, worauf Riedl ebenfalls hinweist (vgl. 173f., 372).

Im ersten Schritt definiert Riedl Nachrichtenqualität als “Ausdruck differenzierter demokratiefördernder Potenziale von journalistischen Inhalten“ (360), die im gewählten “repräsentativen Demokratiemodell” vornehmlich deskriptiv ist und der “Unparteilichkeit” einen “hohen Stellenwert” einräumt (361). Im “deliberativen Demokratiemodell” mit einer “diskursiven Nachrichtenqualität” werden die “Diskursivität der Berichterstattung” betont und der “Vielfalt von Akteur:innen der Zivilgesellschaft” argumentative Teilhabe und Zugang zur Öffentlichkeit ermöglicht (ebd.). Für das “partizipatorische Demokratiemodell” lässt sich eine “aktivierende Nachrichtenqualität” annehmen, die sich journalistisch vor allem in “Formen konstruktiver Emotionalität” ausdrückt, um die “Vielfalt von Bürger:innen und Marginalisierten” “zur direkten Partizipation zu motivieren” (ebd.). “Diese drei Formen von Nachrichten betonen, dass, je nach eingenommener demokratietheoretischer Perspektive, die Performance von Journalismus unterschiedlich beurteilt wird. Sie weisen zudem unterschiedlichen Medien und Medientypen auch unterschiedliche Funktionen zu, wodurch sie zu Demokratie beitragen können” (361f.), schlussfolgert Riedl. Ob sich die demokratischen Modelle und Attribuierungen für die Nachrichtenmaximen idealerweise und auch realiter vermischen, lässt er unbeachtet. Es hätte seine Studie ohne Frage enorm verkompliziert.  

Der zweite theoretische Schritt soll das Qualitätskonzept mit einem “Verständnis des Zustandekommens verschiedener Formen von Nachrichtenqualität” unterstützen. Denn das leiste die “gegenwärtige, primär deskriptive Qualitätsforschung” nicht (362), kritisiert Riedl. Dafür zieht er die “Akteur:innen-Struktur-Dynamik” von U. Schimank (2016) heran, um “systematisch Faktoren und Dynamiken innerhalb des Journalismus” zu identifizieren, die “journalistische Performanz beeinflussen – und damit auch für das Zustandekommen von Nachrichtenqualität konstitutiv sind” (ebd.).

“Nachrichtenqualität erscheint so als das Ergebnis handelnden Zusammenwirkens im Journalismus” im Produktionsprozess, womit die Studie eine “normative und eine analytische Forschungstradition” verbindet (ebd.). Wiederum identifiziert Riedl drei Vermittlungsdimensionen, die das “Wollen”, “Sollen” und “Können” des journalistischen Prozesses bewerkstelligen. Übersetzt in die “Akteur:innen-Struktur-Dynamik”, sind es die “Deutungsstrukturen” als “Orientierungshorizonte” für das professionelle und individuelle Wollen von Journalist:innen, sodann die “Erwartungsstrukturen” als institutionelle Ordnungen und Scharniere zwischen systemischen Orientierungshorizonte und den Konstellationen handelnder Akteur:innen, die das “Sollen” vorgeben, und endlich die “Konstellationsstrukturen”, die als “relativ stabile Interaktionen von Journalist:innen mit ihren Bezugsgruppen” das “Können” begrenzen (sollen) (ebd.). Auf allen drei Strukturebenen lassen sich noch interne und externe Faktoren verorten, weshalb  Riedl nun Nachrichtenqualität in diesen Koordinaten als das “Ergebnis strukturell überformten, (trans)intentionalen handelnden Zusammenwirkens zwischen Journalist:innen und ihren internen wie externen Bezugsgruppen” (363) definiert. Solch kryptische Positionen und Formulierungen müssen natürlich für die empirische Untersuchung in operationable Kategorien übersetzt werden.

Methodologisch klug arbeitet Riedl mit einem “dreiteiligen Mixed-Methods-Design” (27, 206): Er kombiniert eine quantitative Inhaltsanalyse politischer Nachrichten- bzw. Berichterstattungsbeiträge aus den reichweitenstärksten Informations-, Boulevard- und Regionalmedien Österreichs und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ORF, und zwar sowohl als analoge wie digitale Formate, mit einer nachgelagerten, ebenfalls quantitativen Befragung der Urheber:innen der untersuchten Beiträge. Abgerundet wird es mit einer kleineren qualitativen Interview-Erhebung, die einzelne Beiträge subjektiv erklären und ihre Genese rekonstruieren soll. 

Objekt der Untersuchung ist der österreichische Journalismus von 2018 bis 2022, für den bis dato vergleichsweise wenig empirische Daten vorliegen (vgl. 191f.). Sehr systematisch und ausführlich entwickelt Riedl seine Methoden, ihre Implikationen, das jeweilige Vorgehen und berichtet am Ende die einzelnen Befunde. Dies geschieht mit großer Sorgfalt und reflektierter Präzision.

Doch Reichweite und Generalisierbarkeit bleiben begrenzt: Es werden insgesamt 4287 Beiträge einer quantitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Diese stammen aus zwei seriösen Tageszeitungen, einem politisch mächtigen Boulevardblatt, zwei Gratiszeitungen, einer Regionalzeitung für ganz Österreich, drei Fernsehnachrichtensendungen, zwei Radiojournalen des ORF, zwei Online-Ausgaben der seriösen und der Boulevardzeitung sowie einem digitalen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformat des ORF. Analysezeitraum waren vier Wochen des Jahres 2018. 789 dieser Beiträgen konnten 208 konkreten Urheber:innen zugeordnet werden, die schriftlich befragt wurden. 24 von ihnen wurden im Jahr 2020 mit einem qualitativen Leitfaden-Interview ausführlich interviewt.

Aus der Vielzahl der empirischen Ergebnisse lässt sich hervorheben, dass die Berichterstattung in Österreich in hohem Maße dem Anspruch der Unparteilichkeit gerecht wird, demnach die große Mehrheit der Beiträge frei von Wertungen sind. Das gilt herausragend für die Angebote des ORF. Schwach ausgeprägt sind hingegen deliberative Diskursivität und konstruktive Emotionalität, die sich allenfalls verzerrt im Boulevard finden. Demnach stützt der österreichische Journalismus primär ein repräsentatives Demokratieverständnis (vgl. 364), was sich auch in der vorherrschenden Repräsentation “vermachteter” (369) Akteur:innen, mithin parteipolitischer und gewerkschaftlicher Funktionseliten, widerspiegelt. Rechtliche Rahmenbedingungen beachten Journalist:innen vornehmlich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, hingegen sind redaktionelle Leitlinien eher im emotionalisierenden Boulevard von Belang. Dort sind auch die werblichen Aspekte im Sinne der berüchtigten Aufmerksamkeitsökonomie und die zu erzielenden Reichweiten relevant. Doch Zeitdruck und mangelnde Ressourcen sind die wichtigsten Faktoren, die die Berichterstattung aller Journalist:innen konkret und erheblich belasten (vgl. 369). Weitere methodische Schritte, Forschungsdaten und empirische Befunde sind unter einem Link online abrufbar. 

Obwohl es in Österreich eine staatliche Medienförderung auch für privatwirtschaftliche Medien gibt, bleibt doch die Einsicht Riedls zu bedenken, dass der Journalismus nicht alle seine Probleme selbst lösen kann. Vielmehr bedarf es laut Riedl einer breiten “journalistischen Kultur” (273), in der Reflexionsprozesse über die Verfasstheit und Resonanz der Medien, die Qualität ihrer Produkte und die Arbeitsbedingungen, unter denen sie hergestellt werden, angestoßen und politisch umgesetzt werden. Dazu muss auch das Publikum mit geeigneten Mobilisierungen und Qualifizierungskampagnen für mehr Medienkompetenz einbezogen werden. Denn wenn es stimmt, was Riedl lapidar konstatiert, dass sich die “Pressefreiheit in Österreich” seit 2017 “im freien Fall” befindet (379), wäre es nicht nur um sie katastrophal bestellt, sondern auch um die österreichische Demokratie insgesamt. Riedls Studie liefert dafür trotz mancher wohl der akademischen Qualifikation geschuldeten Barriere ein fundiertes, nachdrückliches Zeugnis, dem man über die universitäre Welt hinaus größere Verbreitung wünscht.

Literatur:

  • Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen: Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 5. durchgesehene Aufl. Weinheim/Basel [Beltz] 2016

Links:

Über das BuchAndreas A. Riedl: Nachrichtenqualität als journalistischer Prozess. Demokratietheoretisch fundierte Performanz zwischen Wollen, Sollen und Können. Köln [Herbert von Halem] 2024Empfohlene ZitierweiseAndreas A. Riedl: Nachrichtenqualität als journalistischer Prozess. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 24. November 2025, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/25664
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