Markus Gabriel: Fiktionen

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

In der anhaltenden ‘postfaktischen’ Ära, wo Fake News Tatsachen, ‘alternative Fakten’ Realitäten, gezielte Echokammern und Desinformationen seriöse Nachrichten übertönen und die Grenzen zwischen Sein und Schein, zwischen Wirklichkeit und Fiktion immer stärker verwischen, da könnte man versucht sein, neben vielen anderen Diskussionsbeiträgen auch bei der Philosophie nach Orientierungen zu suchen, zumal bei einem über 600-seitigen Opus, das mit “Fiktionen” überschrieben ist. Außerdem hat der Autor, der Bonner Philosoph und vom Feuilleton schon als “neuer Shooting Star” gefeiert, sein umfängliches Werk in der Kulturzeit auf 3sat als kategorialen Leitfaden für oder besser gegen Digitalisierung, soziale Netzwerke und Künstliche Intelligenz gepriesen.

Doch wer den Wälzer zu lesen beginnt, wird auf eine harte Probe gestellt. Offensichtlich ist der Text nur für philosophische Insider geschrieben, nicht für Laien – wobei das häufig gebrauchte Wort “bekanntlich” bei Verweisen oder verkürzten Zusammenhängen bereits demonstrativ ausschließt. Auch die durchgängige Neigung des Autors, andere Positionen mit knappen apodiktischen Sätzen, gespickt mit vielen Fachbegriffen, ungewohnten Wortkreationen und vielen Verweisen in den Fußnoten, als irreführend oder abwegig zu beurteilen und seine früheren Werke als seriöse Referenzen anzuführen, trägt nicht gerade zum Verständnis bei; jedenfalls müssten viele seiner Sentenzen mit etlichen Fragen entschlüsselt werden. Die abwägende, begründete Argumentation ist entgegen seinem Anspruch nicht seine Stärke.

So kann diese Rezension nur knapp den Inhalt umreißen, ohne in die abstrakten Höhen oder weiten Tiefen der philosophischen Rabulistik einsteigen zu können. Offensichtlich geht es Gabriel in diesem “Grundlagenwerk” (Klappentext) um eine Neubegründung der Ontologie, die er in einer von ihm schon früher entwickelten, so genannten “Sinnfeldontologie” dem relative Zusammenwirken etlicher Segmente – verankert sieht und die sich gegen den “Zeitgeist” richten soll, der “auf einer verdrehten Differenz von Sein und Schein beruht”. “Durch eine solchen Akt der philosophisch begründeten Besinnung eröffnet sich die Hoffnung eines Fortschritts” (17), so der Autor selbstbewusst.

Vehement wendet er sich gegen die Vorherrschaft der Naturwissenschaften, die nur noch gelten lassen, was gemessen, experimentell verifiziert und in Daten geformt werden kann, gegen jeglichen bornierten Positivismus und “handelsüblichen Naturalismus” (22), die längst Gesellschaft, Wirtschaft und Politik dominieren, und verleiht den Geistes- und Sozialwissenschaften wieder ihre “ontologische Dignität” (22). Mithin verficht er eine “humanistische Unhintergehbarkeitsthese”, der zufolge “der Mensch als geistiges Lebewesen die unhintergehbare Ausgangslage jeder ontologischen Untersuchung” sei (21), oder – noch erhabener und etwas altväterisch – die “Unhintergehbarkeit des Geistes”. Denn die Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität, wozu auch die Digitalisierung und Ökonomisierung der Lebenswelt beiträgt, müsse überwunden werden. Aber merkwürdigerweise verwirft er auch den relativierenden Sozialkonstruktivismus, dessen Intention angeblich Dekonstruktion und Rückfall in archaische Zustände sei, als eine der fatalen akademischen Moden.

Dafür mobilisiert er den “Begriff der Fiktionen”. Denn eine “ontologisch verbesserte Fiktionalitätstheorie” trage dem Umstand Rechnung, “dass sich das geistige Leben des Menschen in Dimensionen vollzieht, die weit über unsere Anwesenheit in sensorischen Reizszenen hinausreichen. Fiktionen sind Vollzüge im Raum dieser Transzendenz” (24).

Schon diese fast 50-seitige Einleitung verlangt den Lesenden einiges ab und stößt sie mit rigorosen Behauptungen häufig vor den Kopf. Erst am Ende wird ein Aufriss der drei Teile geboten: Das Buch durchmesse “die Dimensionen menschlicher Fiktionen in drei Teilen, ohne damit einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben” (34). Der erste Teil entwickle einen “fiktionalen Realismus”, der nicht ohne weiteres “auf der Landkarte der zurzeit handelsüblichen Positionen bezüglich der sogenannten ‘fiktionalen Gegenstände'” zu finden sei (ebd.). Seine Grundidee sei es, dass die Fragestellung, ob “fiktionale Gegenstände” existieren, weitgehend verfehlt sei, weil mindestens zwei Arten von Gegenständen in der Regel verwechselt werden. In den ersten Kapiteln wird dann anhand von Figuren in künstlerischen, also fiktionalen Werken räsoniert, was fiktional und was fiktiv ist, was existente und nicht existente Gegenstände sind, wobei bei der Vielzahl von Definitionen und Umschreibungen etliches wohl nicht deckungsgleich ist und der rote Faden schon mal verloren gehen kann.

Der zweite Teil, überschrieben mit “mentaler Realismus”, stellt besagte “Hintergehbarkeitsthese” des Geistes (40) ins Zentrum, die behauptet, “dass der menschliche Standpunkt eine Invariante (die anthropologische Konstante) enthält. Ihr Kern ist unsere Selbstbildfähigkeit, d. h. der Umstand, dass wir uns mittels der Ausarbeitung von Selbstporträts in Zusammenhängen verorten, die jede Episode überschreiten” (ebd.). Deshalb müssen der naive Realismus und auch der Illusionismus scheitern. Dagegen werden ein “Geistesbegriff” – als dasjenige Ganze, in dem wir alles verorten und das “nicht Teil des Gehirns” sei (41) sowie eine Wahrnehmungstheorie entwickelt. Die “mediale Natur” der Wahrnehmung erlaube es uns, “Wirkliches direkt zu erfassen, ohne dass es durch irgendetwas Unwirkliches (wie epiphänomenale mentale Repräsentationen) vermittelt wird, das zwischen uns und die Dinge tritt” (42). 

Der dritte Teil, mit “sozialer Realismus” betitelt, widmet sich den “konstruktivistischen Restbeständen in der Diskussionslandschaft des Neuen Realismus, die im Bereich der Sozialontologie zu Buche schlagen” (42). Die Grundthese des Konstruktivismus, dass das Soziale kollektiv konstruiert ist, weist Gabriel kategorisch zurück – obwohl sie eigentlich zutiefst human ist. Warum ihr die von ihm vertretene “Inkohärenz des Konstruktivismus” (43) entgegensteht, ist nicht nachvollziehbar. Immerhin nähert sich dieser Teil allmählich sozialen Wirklichkeiten an, allerdings fallen die aufgegriffenen Themen etwas beliebig aus: Von der “Natur sozialer Tatsachen” spannen sie sich über “die intransparente Gesellschaft”, “Regelfolgen”, “Mythologie, Ideologie, Fiktion” bis hin zur “Ontologie sozialer Netzwerke” und “die Öffentlichkeit des Geistes” und kommen mithin erst in den letzten beiden Kapiteln bei den ursprünglich erwarteten brisanten Aktualitäten an.

Für die Beschäftigung mit sozialen Netzwerken wird sogleich die Richtung vorgegeben: Es könne sich nur um “eine Diagnose der Pathologie” (593) handeln. Denn soziale Medien sind “intransparent” (ebd.), ihre Daten und Algorithmen “Ausdruck von Vorurteilen” (weil sie durch die Voreinstellung von Suchmaschinen selegiert werden), sie verbreiten Dissens, “ihr Wesen ist der Shitstorm” (596). Weil wir uns dagegen zur Wehr setzen, produzieren wir ständig neue Daten. “So werden wir allmählich zum digitalen Proletariat, das ohne Mindestlohn gigantischen Mehrwert erzeugt und diesen Vorgang als solchen nicht mehr zur Kenntnis nimmt” (596).

Denn soziale Netzwerke seien “Personalisierungsmaschinen” (595), aber zugleich “Verfallsmedien in dem Maße, in dem sie auf Abbau der Norm der Wahrheit als diskursiver Leitlinie abgestellt sind” (597). Dadurch zerfalle das soziale System, allerdings nur “virtuell”, “weil in Wirklichkeit sehr wohl eine Institution vorhanden ist, welche die Pluralität der Meinungen verwaltet, indem sie diese zu Werbungs- und Propagandazwecken einsetzt” (597). Die “Pointe” (605) dieser Überlegungen mündet in der Forderung, “dass es dringend an der Zeit für eine echte digitale Revolution ist, was eine Aufklärung über die ontologische Architektur des digitalen Zeitalters und damit der sozialen Netzwerke voraussetzt” (ebd.). Die scheint Gabriel nach seinem Dafürhalten wohl mit den angeführten Einschätzungen geleistet zu haben – auch wenn sie nur für eine kleine Minderheit verständlich ist und von dieser zur Kenntnis genommen wird.

Für eine kurze Betrachtung der “Öffentlichkeit” rekurriert Gabriel als Ausgangspunkt kritisch auf Jürgen Habermas’ berühmte Habilitationsschrift zum “Strukturwandel der Öffentlichkeit” (von 1962, mit einem Vorwort zur Neuausgabe 1990), hier als “einflussreiche Behauptung” (605) abgewertet. Als historische und staatstheoretische Arbeit sucht sie aufzuzeigen, wie und warum “Öffentlichkeit” zur Verfassungsnorm der modernen bürgerlichen Demokratie geworden ist sowie wie und warum sie diesen Status und diese Funktion unter dem Einfluss der Massenmedien allmählich verloren hat. Diese “Ambivalenz” (606) von allgemeiner Norm und historischer Kategorie erachtet Gabriel jedoch als ungeeignete Basis, um die “Herausforderungen der digitalisierten Öffentlichkeiten kritisch” (610) zu prüfen.

Immerhin hat Habermas’ Arbeit über Jahrzehnte international und in vielen Disziplinen vielfältige, auch kontroverse Diskussionen angestoßen, um die durch die Massenmedien und später die sozialen Medien verursachte Partikularisierung und Erosion der bürgerlichen Öffentlichkeit bis zu ihrer gegenwärtigen Unkenntlichkeit zu analysieren. Ein allgemeines, mindestens kollektives Verständnis von ihr gibt es kaum mehr. Davon zeugen mittlerweile unzählige Studien und Belege, aber die scheint Gabriel nicht zu kennen. Er setzt dagegen die “Öffentlichkeit des Geistes” (605ff.), die auf der “unhintergehbare Selbstbildfähigkeit des Menschen” als “Element einer Grundlegung einer Theorie genuiner Öffentlichkeit” (611) beruht. Die bestehe darin, “dass die soziale Wirklichkeit prinzipiell allgemein zugänglich ist” (ebd.) – was sie weder historisch je war noch gegenwärtig ist und was wohl auch nicht mit Gabriels vorausgegangenen Formulierungen über Wirklichkeit übereinstimmt. Auch einige Seiten weiter (617) werden die Plattformen der großen digitalen Unternehmen dadurch gekennzeichnet, dass sie inhaltsleer sind und dazu dienen, “dass wir ausdrücken, wofür wir uns halten, indem sie eine Scheinöffentlichkeit generieren, in der wir uns zur Schau stellen” (ebd.). Solche Urteile sind nicht neu, eher pauschal und trivial, sie lassen sich inzwischen in jedem kritischen Debattenbeitrag zu den sozialen Netzwerken finden; in jedem Fall hätten sie nicht den immensen philosophischen Vorlauf gebraucht, wie in Gabriel aufbietet.

Gleichwohl setzt er in seiner Conclusio (“Zu guter Letzt”) noch einmal zum philosophischen Rundumschlag an: Zwar leben wir in den fortgeschrittenen Industriestaaten in einer “Wissens- und Informationsgesellschaft” (623), aber das Internet sei “wesentlich eine Scheinmaschine, weil es in seinem eigenen Medium nicht erlaubt, echte von Fehlinformationen zu unterscheiden” (ebd.). Außerdem seien die “basiswirklichen, industriellen Produktions- und Reproduktionsbedingungen der digital beschleunigten Konsum- und Wohlstandsgesellschaften in keinster Weise digitalisierbar” (624), weiß der technische Laie. Der gegenwärtige “Irrtum” sei das “naturwissenschaftliche Weltbild, das sich zutraut, an die Stelle der Philosophie zu treten und wildgewordene Metaphysik als gelungene Interpretation echter naturwissenschaftlicher Forschung zu verkaufen” (635). Deshalb sei dieses Buch der “Versuch”, das “Gesprächsformat von Philosophie und Geisteswissenschaft mit neuem Leben zu füllen” (625). Doch was diese Disziplinen für die gründliche Analyse der gegenwärtigen mächtigen Entwicklungen und Fehlentwicklungen in Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft, etwa von Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Pandemien etc., leisten sollen und können, dazu bedarf es sicherlich mehr als nur philologisch-philosophische Rabulistik.

Über das BuchMarkus Gabriel: Fiktionen. Berlin [Suhrkamp] 2020, 636 Seiten, 32,- EuroEmpfohlene ZitierweiseMarkus Gabriel: Fiktionen. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 4. März 2021, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22629
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