Patricia Müller: Social Media und Wissensklüfte

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
Die Nutzungszahlen indizieren es schon seit längerem: Wenn Jugendliche und junge Erwachsene sich überhaupt noch über das aktuelle Geschehen mittels Nachrichten informieren, tun sie es lieber im Netz, anhand von Webseiten und Social Media. Die klassischen Nachrichtenmedien wie Hörfunk und Fernsehen, vor allem aber die analoge Tageszeitung sind weitgehend abgemeldet. Pointierter, bunter, kurzweiliger, oft in boulevardesker Zuspitzung und mit der Vorgaukelung schnellen Überblicks vermitteln die elektronischen Versionen gerade für wenig politisch interessierte Nutzer*innen ihre Botschaften, so dass sie bei ihnen oft genug Eindrücke umfassenden Informiertseins hinterlassen.

Trotz etlicher einschlägiger Beobachtungen und kleinerer Studien sei bislang noch kaum “umfassend geklärt“ (285) und empirisch belegt worden, wie sich dieses veränderte Nachrichten- und Informationsverhalten auf die politische Informiertheit junger Menschen auswirkt, begründet die Autorin das Anliegen ihrer an der Universität Hohenheim verfassten, umfangreichen Dissertation (2017), die nun in gekürzter und überarbeiteter Fassung vorliegt. Allerdings erfolgte die empirische Erhebung, eine zweiwellige Online-Befragung von gut 560 16- bis 29jährigen, quotiert nach Geschlecht, Alter und Bildung, bereits Ende 2012 und Anfang 2013 – eine in der Online-Ära erhebliche Zeitspanne, die manche Veränderungen zwangsläufig ignorieren muss und im Detail nicht mehr unbedingt aktuell ist, wie die Autorin am Ende, bei ihrer löblichen Reflexion, selbst einräumt (vgl. 299). Umso aufschlussreicher und gründlicher sind die theoretischen und methodischen Aufarbeitungen, die sie in vorbildlicher, systematischer und differenzierter Weise vornimmt und damit diese Dissertation zu einem vorzüglichen Exempel einer Qualifikationsarbeit macht.

Als theoretischer Bezugspunkt zieht die Autorin die Wissenskluft-Forschung heran, wie sie seit den 1970er Jahren entwickelt wurde; die arbeitet sie gründlich und systematisch auf, womit sie über einige schon verfügbare Übersichten hinaus einerseits einen differenzierten Forschungsreport liefert, zum andern aber auch eine solide Basis für die Forschungsfragen und methodischen Überlegungen ihrer empirischen Erhebung vorlegt. Nur am Rande konnte im Rahmen einer solchen Qualifikationsarbeit bedacht werden, ob auch andere theoretische Ansätze – etwa Uses-and-Gratifications- oder Information-Seeking-Approach – nicht ebenso oder gar besser zur theoretischen Explikation geeignet gewesen wären, da die Wissenskluft-Hypothese eine gewisse zeitliche Dynamik und soziale Generalität unterstellt, die bei solch überschaubaren Studien kaum erreicht werden können.

Die Forschungsfragen beschäftigen sich zunächst mit der (habituellen) Nachrichtennutzung junger Menschen, ihrer Bildung und Motivation, ihren gewohnten Nachrichtenrepertoires und den gewählten Formaten – von Qualitätsmedien bis zu Social Media –, die sich zu fünf Nutzertypen clustern lassen, mit ihrem Vor- und Themenwissen, sodann mit der Fähigkeit und der Praxis der Informationsverarbeitung und der damit einhergehenden Entwicklung von Wissensklüften sowie mit der Rolle politischer Gespräche und dem Austausch via Social Media. Relativ beliebig fallen die jeweils gewählten Themen, nämlich die Kanzlerkandidatur Peer Steinbrücks und die Energiewende, aus. Und wie diese Themen in den diversen Medien jeweils präsentiert wurden, hätte mit allerdings recht schwierigen Inhaltsanalysen eruiert werden müssen, wie die Autorin wiederum konzediert, die sie aber nicht leisten konnte. So bleibt etliches im Vagen. Gleichwohl wertet die Autorin die erhobenen Daten überaus systematisch und vielfältig aus, um differenzierte Profile von Nutzung und Informiertsein zu bekommen.

Ungewöhnlich überraschend sind die Befunde – wie zu erwarten – kaum: Entgegen manchen eilfertigen Vorurteilen zeigte sich die Mehrheit der 16- bis 23-Jährigen am aktuellem politischen Geschehen durchaus interessiert, allerdings eher an strukturellen Themen wie Umwelt und Energiewende und weniger an den kuranten politischen Events. Das Bildungsniveau und mit ihm dezidiertes politisches Interesse haben Einfluss auf die Wahl der Nachrichtenmedien, wobei – damals – die öffentlich-rechtlichen TV-Nachrichten oder journalistische Nachrichten-Websites noch einen markanten Stellenwert hatten. Entsprechend beeinflussen Vorwissen und gründliche Informationsverarbeitung Qualität und Intensität des Wissenserwerbs – natürlich nur bezogen auf besagte Themen.

Mitunter vorgebrachte Hoffnungen, dass wenig politisch interessierte und niedrig gebildete junge Menschen von den schicken und bunten Boulevardmedien und Online-Netzwerken für ihre politische Information profitieren könnten, haben sich nicht erfüllt. Eher gedeihen besagte Illusionen des (oberflächlichen) Überblickwissens, das sich nur an Äußerlichkeiten und Keywords festmacht. Und auch für Fähigkeiten, wahre und falschen Informationen unterscheiden zu können und nicht Fake News aufzusitzen, bedarf es gründlicher, sorgfältiger Schulung, die besagte Online-Medien meist verweigern. Ob dafür auch Gespräche und Austauschformen in Peer Groups Hilfen sein können – oder eher verstärkend bzw. ablenkend wirken – müsste gesondert untersucht werden.

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Über das BuchPatricia Müller: Social Media und Wissensklüfte. Nachrichtennutzung und politische Informiertheit junger Menschen. Wiesbaden [Springer VS] 2019, 347 Seiten, 49,99 Euro.Empfohlene ZitierweisePatricia Müller: Social Media und Wissensklüfte. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 29. Januar 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21660
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