Martina Behr: Evaluation und Stimmung

Einzelrezension
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Rezensiert von Robin Kurilla

Evaluation und StimmungEinzelrezension
Auf 320 Seiten plus Literaturverzeichnis und Anhang befasst sich Martina Behr in dieser Publikation mit der “Evaluation von Dolmetscherleistungen im Konferenzdolmetschen“ (15). Die Studie, die auf Behrs Dissertation beruht, will dabei den Fokus auf die Perspektiven “der Zuhörer (User), […] der Dolmetscherkollegen und […] der Prüfer“ (20) stärken, also einer heterogenen Rezipientengruppe für die Qualitätsfrage von Dolmetscherleistungen. Hinsichtlich des Standes der Qualitätsforschung in der sich als interdisziplinäres Projekt verstehenden Dolmetschwissenschaft, geht die Autorin davon aus, dass die “bisher erfolgten Forschungsleistungen […] ihrer Zielsetzung nur annäherungsweise gerecht werden“ (53). Zur Behebung dieses Defizits schlägt sie daher vor, sich an den in der Praxis implizit zur Anwendung gebrachten Kriterien zu orientieren. Dabei sollen stärker als bisher die Dolmetschsituation und das hier kontextualisierte Handeln und Erleben der Rezipienten untersucht werden. Darin schließlich liegen die Motive, die Qualitätsevaluation durch eine Konsultation benachbarter Disziplinen zu verbessern.

Allerdings ist die Rezeption der dazu in den Blick genommenen Kommunikations- und Emotionsforschung gründlich misslungen. Dies liegt vor allem daran, dass sich die Autorin in sozial- und insbesondere kommunikationswissenschaftlichen Diskussionskontexten so wenig auskennt, dass sie bei der Rezeption der von ihr gesuchten Ansätze die seit langem bestehende Binnendifferenzierung innerhalb der Kommunikationswissenschaft in eine Forschung zu öffentlicher Kommunikation, Medien- und Massenkommunikation auf der einen, und eine mit interpersonaler Kommunikation und multimodaler Interaktion befassten Forschung auf der anderen Seite vollkommen übersieht, um sich ausgerechnet demjenigen Zweig zuzuwenden, der zu Problemstellungen der Dolmetschwissenschaft kaum in ein produktives Verhältnis gesetzt werden kann.

Beiträge aus der aktuellen interpersonalen Kommunikationsforschung, der multimodalen Interaktionsanalyse oder der pragmatisch orientierten Gesprächsforschung, die gerade hinsichtlich des von ihr vertretenen Forschungsfeldes aufschlussreich wären (allein für die deutschsprachigen Raum z.B. Krallmann/Ziemann 2001, Reichertz 2009, Richter/Schmitz 1998, Schmitz 1998, Ungeheuer 1987, 2010), nimmt die Autorin nicht zur Kenntnis, auch Beiträge aus den US-amerikanischen Communication Studies und den dort zahlreich vertretenen Forschungen zu Speech Communication werden souverän ignoriert. An die Stelle solcher für eine Dissertation allein handwerklich unerlässlicher Recherchen tritt die Lektüre einiger ohnehin nicht mehr aktueller Lehrbücher, die in entsprechend vereinfachender Weise den Stoff für Studierende aufbereiten. Diese Rezeptionsstrategie wird bei der einseitigen und schematischen Diskussion einiger unbegründet ausgewählter Kommunikationsmodelle (Stimulus-Response, Shannon/Weaver, Lasswell) offensichtlich, der die Verfasserin schließlich die kühne Einschätzung folgen lässt: “Anhand der vorgestellten Modelle der Kommunikationswissenschaft zeigt sich, dass diese Disziplin noch immer von klassisch-naturwissenschaftlichen Ansätzen geprägt ist, die den Anforderungen geistes- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände nicht Stand halten.“ (131)

Spätestens bei dem deutlich an die Darstellungsweise der Sekundärliteratur angelehnten Versuch, die Theorie sozialer Systeme für die eigene Fragestellung fruchtbar zu machen, zeigen sich die kommunikationstheoretischen Defizite der Arbeit (Kap. 4.4) Nicht nur erhält der Leser den Eindruck, Luhmann habe Parsons Theorie weiterentwickelt (136), obgleich er in Wahrheit dessen epistemologische Grundlagen und Gegenstandsbezüge radikal umkehrt. Auch die Grundbegriffe “Kommunikation“, “Interaktion“, “Komplexität“, “Selektivität“ und “System“ werden in ihrem wechselseitigen Bezug, ihrer theorie-architektonischen Justierung und ihrer subjektkritischen Stoßrichtung nur unzureichend verstanden. Entsprechende Fehlinterpretationen kennzeichnen dann auch den Versuch, die für die Studie relevanten Konferenzsettings mit systemtheoretischen Mitteln zu begreifen: “Eine Veranstaltung […], auf der mehrere Zuhörer den Ausführungen eines Redners folgen und manche dieser Zuhörer aufgrund der Sprachbarriere auf eine Verdolmetschung angewiesen sind, kann zunächst als System der elementaren Interaktion definiert werden. Dabei bilden der Redner, der Dolmetscher und die Zuhörer die Elemente (E).“ (145)

“Elemente“ des Systems sind bei Luhmann aber gerade nicht Personen oder Akteure – darin liegt schließlich die gegen klassische Handlungsmodelle gerichtete Pointe seiner Theorieofferte – sondern nur Kommunikationen, deren emergente Eigenschaften ja gerade ihren systemischen, mithin nichtreduktionsfähigen Charakter ausmachen. Vor dem Hintergrund dieser und anderer Missverständnisse stellt sich erst recht die Frage, warum die Studie überhaupt auf Luhmanns Theorie rekurriert. Denn personale (und linguistische) Kompetenzen, mentale oder emotionale Zustände haben hier aus guten Gründen überhaupt keinen logischen Ort, insofern sie einer Realitätsebene angehören, auf die sich die Systemtheorie gerade nicht beziehen will.

Statt die mittlerweile umfangreiche Literatur zur Rolle des Hörers im Kommunikationsprozess zur Kenntnis zu nehmen, nimmt die Verfasserin lieber gleich eine disziplinäre Neuverortung der Systemtheorie vor: “Die zentrale Bedeutung des Rezipienten, dem in der vorliegenden Arbeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, zeichnet sich in der kommunikationsorientierten Systemtheorie nach Luhmann deutlich ab und ist damit innerhalb der Sozialpsychologie [sic!] anzusiedeln.“ (208f) Erschöpft von derartigen Konfusionen und nach abermaliger Kritik an informationstheoretischen Sender-Empfänger-Modellen – bspw. an Reimann (1968) und Prakke (1968) – bei gleichzeitiger unreflektierter Übernahme der kritisierten Fallstricke, wird der Leser mit folgendem Urteil der Autorin konfrontiert: “An dieser Stelle wird zum einen deutlich, dass die Kommunikationswissenschaft diese auch für das Dolmetschen relevanten Erkenntnisse bereits Mitte der 1970er Jahre lieferte, zum anderen aber auch, dass diese Einsichten in der seither vergangenen Zeit keine Weiterentwicklung im Sinne eines bedeutenden Erkenntniszugewinns erfahren haben. Die Forschung in diesem Bereich scheint seit […] jener Zeit keine Fortschritte gemacht zu haben.“ (160f.)

Auch im zweiten Hauptkapitel, das dem Zusammenhang von Stimmungen und der Evaluierung von Dolmetschleistungen nachzugehen beabsichtigt, ist es nicht so sehr der Blick auf die aktuelle Forschung, sondern in erster Linie Lehrbuchwissen (Scherer 2002, Merten 2003), das die Verfasserin rezipiert und ihrer Urteilsbildung zugrunde legt. Dabei scheinen die eingangs artikulierten Bedenken gegen eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise genuin sozialer Phänomene die Autorin hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf “emotional states“ nicht mehr zu bekümmern, insofern sie die implizit informationstheoretischen Erblasten innerhalb der von ihr zitierten psychologischen Emotionsforschung nicht bemerkt. Die mittlerweile die engere psychologische Forschung überschreitende Diskussion emotionaler Phänomene in Gestalt ihrer historischen, kulturellen, sozialen und interaktiven Situierung hätte die theoretischen und epistemologischen Aporien der Arbeit aufdecken müssen, wäre sie zur Kenntnis genommen worden.

Im anschließenden empirischen Teil will die Studie folgende Frage beantworten: “Inwieweit kann die Evaluation derselben Dometschleistung, die von der gleichen Person unwissentlich zu zwei verschiedenen Zeitpunkten bewertet wird, mit der jeweiligen Stimmung der bewertenden Person korreliert werden?“ (273) Zwei Personengruppen, Prüfern und Usern, wurden in einem bestimmten zeitlichen Abstand dieselben Dolmetschleistungen dargeboten, die sie im Anschluss anhand eines standardisierten Fragebogens bewerten sollten. Die Stimmungen selbst wurden per Fragebogen ermittelt, wobei kritisch nachgefragt werden muss, ob sich durch dieses Verfahren überhaupt ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Stimmung und Bewertung ermitteln lässt. Das liegt nicht unbedingt an den Selbstauskünften, die der Generierung von Daten zur Befindlichkeit zugrunde liegen. Problematisch ist vielmehr, wie sich durch das als experimentell ausgewiesene Forschungsdesign (ebd.) die einzelnen Variablen isolieren lassen, um auszuschließen, dass nicht andere oder weitere als die fixierten Parameter als Varianzquelle auftreten.

Zudem scheint die Autorin ihre auf Qualitätsevaluation abzielende Forschung mit “qualitativer“ Sozialforschung zu verwechseln, da schließlich die relevanten Analysegrößen wie auch die Forschungshypothesen ex ante generiert, von außen an den Untersuchungsgegenstand herangetragen und nicht im Verlauf der empirischen Studie erst entwickelt wurden. (279f) Es könnte auch sein, dass das Prädikat “qualitativ“ nur ins Spiel gebracht wurde, um nicht an den Gütekriterien quantitativer Verfahren gemessen zu werden: “Da es sich im vorliegenden Fall um eine qualitative Erhebung handelt, können die Daten keinen Reliabilitäts- oder Validitätskriterien im Sinne der quantitativen Forschung unterzogen werden[.]“ (ebd.)

Wenn zum kleinen Einmaleins intellektueller Redlichkeit und akademischer Gewissenhaftigkeit das Bemühen um einen sachadäquaten Umgang mit dem Forschungsstand anderer Disziplinen oder die Rückversicherung bei den entsprechenden Fachvetretern gehört, gibt es für die Autorin leider erheblichen Nachholbedarf. Vor allem bleibt nach der Lektüre der Dissertation unverständlich, warum sich die Verfasserin mit derart forschen Pauschalurteilen gerade für die Zusammenarbeit mit denjenigen Nachbarwissenschaften disqualifiziert, die für ein den Status einer Disziplin anstrebendes junges Forschungsfeld eigentlich die interessantesten Gesprächs- und Kooperationspartner wären.

Literatur:

  • Krallmann, D./Ziemann, A.: Grundkurs Kommunikationswissenschaft,  München [Fink] 2001
  • Merten, J.: Einführung in die Emotionspsychologie, Stuttgart [Kohlhammer] 2003
  • Prakke, H.: Kommunikation der Gesellschaft. Einführung in die funktionale Publizistik, Münster [Regensberg] 1968
  • Reichertz, J.: Kommunikationsmacht. Was ist Kommunikation und was vermag sie? Und weshalb vermag sie das? Wiesbaden [VS Verlag] 2009
  • Reimann, H.: Kommunikations-Systeme. Umrisse einer Soziologie der Vermittlungs- und Mitteilungsprozesse, Tübingen [J. C. B. Mohr] 1968
  • Richter, H./Schmitz, H. W. (Hrsg.): Kommunikation – ein Schlüsselbegriff der Humanwissenschaften? Münster [Nodus] 2003
  • Scherer, K.: Emotion. In: W. Stroebe, K. Jonas & M. Hewstone (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung, [Berlin Springer] 2002,  S. 165-213.
  • Schmitz, H. W. (Hrsg.): Vom Sprecher zum Hörer. Kommunikationswissenschaftliche Beiträge zur Gesprächsanalyse. Münster [Nodus] 1998
  • Ungeheuer, G.: Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verstehen, Aachen [Rader] 1987
  • Ungeheuer, G.: Einführung in die Kommunikationstheorie, hg. von Karin Kolb, Jens Loenhoff und H. Walter Schmitz, Münster [Nodus] 2010

Links:

Über das BuchMartina Behr: Evaluation und Stimmung. Ein neuer Blick auf Qualität im (Simultan)Dolmetschen. Reihe: TRANSÃœD. Arbeiten zur Theorie und Praxis des Ãœbersetzens und Dolmetschens, Bd. 49. Berlin [Frank & Timme] 2013, 356 Seiten, 34,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseMartina Behr: Evaluation und Stimmung. von Kurilla, Robin in rezensionen:kommunikation:medien, 28. September 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18488
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Ein Kommentar auf “Martina Behr: Evaluation und Stimmung
  1. M.Behr sagt:

    Auf die oben stehende Rezension möchte ich als Verfasserin des rezensierten Buches in Kürze Stellung nehmen.
    Mit der oben zu lesenden Rezension wird ein großes und bislang leider ungelöstes Dilemma der Dolmetschforschung deutlich: Es handelt sich um ein Forschungsfeld, dass in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Forschungsgegenstand aufgrund dessen Komplexität auf Erkenntnisse anderer Disziplinen angewiesen ist. Dies birgt unweigerlich die Gefahr, dass die Übernahme von Erkenntnissen nicht derart in der Tiefe erfolgt, wie es aus der Sicht der jeweiligen anderen Disziplin – und auch der Dolmetschforschung – wünschenswert wäre. Es bleibt nur: auf Forschung zu verzichten, sofern kein komplettes zweites Studium (der anderen Disziplin) erfolgt ist, oder aber, um das eigene Feld voranzubringen (wozu wohl jedes Feld das Recht hat), sich einzulesen und ausgewählt auf die eigene Fragestellung bezogen zu versuchen, Erkenntnisse aus anderen Bereichen zu übertragen. So ist jede Entlehnung auch immer ein Wagnis, die jedoch schwer den Anspruch erheben kann, vor der anderen Disziplin uneingeschränkt zu bestehen, sondern vielmehr den Versuch darstellt, einen Beitrag zur eigenen Forschung zu leisten. Kritik, die konstruktiv ist, ist dabei von den entsprechenden Nachbarwissenschaften mehr als gewünscht, weil unbedingt erforderlich.

    „Interessante Gesprächspartner“ für eine Zusammenarbeit mit Nachbarwissenschaften sind dabei leider nicht immer leicht zu finden (– für diejenigen, die sich in der Dolmetschforschung auskennen: Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung der Dolmetschforschung mag hier Erklärungen liefern). Dies liegt häufig daran, dass die Vertreter dieser Nachbardisziplinen zwar interessant, aber nicht immer interessiert sind, an dem, was Dolmetscher tun (die leider lange Zeit negativen Erfahrungen im Bemühen um entsprechende Kooperationen haben dies gezeigt). Ein interessierter Gesprächspartner könnte fragen, welchen Wert das rezensierte Buch wohl innerhalb des Forschungszweiges, für das es geschrieben wurde, haben könnte. Er könnte erfahren, dass die Dolmetschwissenschaft mindestens innerhalb der Translationswissenschaft mittlerweile als Disziplin gilt, und würde sie dementsprechend nicht zu einem „interdisziplinären Projekt“ degradieren müssen. Und er könnte, wenn er an einem Austausch interessiert wäre, die eigenen Grenzen seiner Beurteilung erkennen. Eine Rezension, die nur eine (die eigene) Perspektive, einnimmt, und die aus dieser Warte eigentlich nur zwei von sieben Kapiteln beurteilt, wird dem Anspruch „akademischer Gewissenhaftigkeit“, für die der Rezensent plädiert, wohl nicht gerecht. So mag der Eindruck entstehen, dass es dem Rezensenten lediglich um eine Veröffentlichung geht, nicht aber darum, die Rolle eines interessanten und interessierten Gesprächspartners zu übernehmen, der sich dem Anspruch der Wissenschaft allgemein verpflichtet fühlt, nämlich: den (– interdisziplinären –) wissenschaftlichen Diskurs und damit die Forschung voranzubringen.

    Martina Behr, im November 2015