Hinderk M. Emrich, Edgar Reitz: Der magische Raum

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Rezensiert von Gabriele Mehling

Einzelrezension
Der Filmemacher Edgar Reitz hat in seiner bedeutenden Trilogie auf einzigartige Weise einen geografischen, sozialen und kulturellen Raum beschrieben: die Heimat (1984-2000). Zusammen mit Hinderk M. Emrich, Mediziner und Philosoph, wendet sich der Regisseur dem Thema nun wieder zu: In ihrem gemeinsamen Buch Der magische Raum diskutieren sie in vier Gesprächen die Magie der filmischen Raumdarstellung, ja Raumerzeugung. Außer Ort und Datum gibt es leider keine näheren Angaben über den Anlass oder den institutionellen Rahmen, in denen die Gespräche stattgefunden haben. Es informiert auch kein Vorwort über das Zustandekommen der Unterhaltung oder welches Anliegen die Autoren haben. So scheint es sich um private ‚Kamingespräche‘ zu handeln.

Das Gespräch an sich birgt viele Chancen, die der Aufsatz oder die Monografie nicht bieten: Die lebendige Auseinandersetzung im direkten Austausch ermöglicht die Unvermitteltheit, Spontaneität und Produktivität, die Heinrich von Kleist 1805 als „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschrieb. Die thematische Fokussierung ist nicht so eng, oft sind Themenwechsel der Eingebung des Augenblicks geschuldet. Dadurch nimmt der Leser die eine oder andere Sprunghaftigkeit in Kauf, wo man gewöhnlich Präzision in der Argumentation erwartet.

Das Buch beginnt mit einem einführenden Beitrag von Hinderk M. Emrich (S. 7-22). Dieser Text beruht wohl auf einem Vortrag, den er im Jahr 2010 an der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen ‚Konrad Wolf‘ gehalten hat. Emrich kündigt eine Ethik des Raumes an, die er jedoch nicht ausführt. Stattdessen reiht er verschiedenste Aspekte aneinander: Er räsoniert über Immanuel Kants Opus postumum, das Träumen und Erwachen in Kafkas Prozess und in Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug, C.G. Jungs Traumanalyse und beschreibt Szenen aus Filmen von Orson Welles, Alain Resnais und Wong Kar-Wai. Doch daraus ergibt sich keine nachvollziehbare Beweisführung, denn allein aus der Nähe der einzelnen Elemente zueinander entsteht noch keine Aussage. Mag sein, dass die Filmbeispiele im Vortrag ihre Verbindungen zwingender erscheinen ließen; im gedruckten, nur mit kleinen Schwarz-Weiß-Bildern illustrierten Text, müssten implizite Assoziationen durch explizite Argumente wenigstens ergänzt werden. Am Schluss bricht der Beitrag einfach ab. Emrich macht sich nicht die Mühe, den Lesern hier ein Fazit, einen Rück- oder Ausblick anzubieten. Das wirkt lustlos – als ob der Autor einen alten Text recycelt hätte, ohne ihn zu überarbeiten oder an die Erfordernisse der neuen Form anzupassen.

In den Gesprächen funktioniert das assoziative Prinzip zum Teil besser. Im ersten Dialog über Die Anfänge der filmischen Erzählkunst geht es anfangs um ganz praktische Aspekte der filmischen Raumerzeugung: den Kamerastandort in der Position des Zeugen oder Chronisten, die Nahaufnahme, die Diagonale als Mittel der Bildaufteilung und der Erzeugung von Bildtiefe, Schuss/Gegenschuss sowie die Montage. Was Emrich oft nur mit vagen Metaphern oder philosophischen Konzepten andeutet, verbindet Reitz mit konkreten Beschreibungen des filmproduzierenden Handelns. Fragt Emrich etwa danach, wie das Kino „antlitzhafte Milde“ (S. 37) herstellen könne, spricht Regisseur Reitz über die „Kälte der Realisation“ (S. 38), die darin liege, wie Schauspieler der Kamera ausgesetzt werden. Behauptet Emrich, die „Beseeltheit als solche“ erzeuge einen „Schutzraum“ (S. 40), macht Reitz klar, dass „Geschichten keine Schutzzonen für die Seele sind. Im Gegenteil: Das Erzählen stellt die Figuren bloß“ (S. 41). Reitz‘ Realismus bei der Beschreibung seiner filmischen Arbeit hebt sich wohltuend konkret gegen das Metaphern-,Gewitter‘ des Philosophen ab.

Leider erhält sich diese Dualität nicht über das gesamte Gespräch. Als Emrich, weit in metaphysische Gefilde ausgreifend, die „Anwesenheit des Geistes“ im Kunstwerk für die Entstehung einer „höhere[n] Form der Präsenz“ verantwortlich macht und schlussfolgert, der Geist „inkarniert uns im erzählerischen Raum“, echot Reitz: „Im erzählerischen Raum inkarniert sich der Geist“ (S. 46). Dass dies keine ironische Verfremdung oder Umkehrung, sondern ernst gemeint ist, zeigt die kursive Hervorhebung.

Das zweite Gespräch über Die Epiphanie des Konkreten nimmt den ‚erzählerischen Raum‘ in den Blick, den Emrich als „existentielle Verbindung“ und „geistig-seelischen Resonanzboden“ zwischen Erzähler und Rezipient versteht (S. 53). Je nach Autor wird der Begriff sehr unterschiedlich erklärt. Reitz verwendet ihn eher im Sinne von Generation, Kultur und Intertextualität: Der ‚erzählerische Raum‘ basiere auf gemeinsamen Erfahrungen, durch die sich der Filmemacher dem Zuschauer verständlich mache. Diese können „sehr spezifisch“ sein: „deutsch, hunsrückisch, katholisch“ (S. 59). Jener Raum könne sich weiter ins denkbar Allgemeine ausdehnen, sodass er „am Ende alle Kulturen umfasst“ (ebd.). Und schließlich sei der erzählerische Ort (z. B. das nicht existente Schabbach aus Reitz‘ Opus Magnum Heimat) der Eintrittspunkt für den Autor in den „Erzählraum“. Dort liegen alle erzählerischen Orte entfernungslos nebeneinander, jeder sei direkt von jedem anderen aus erreichbar. So gelange der ästhetisch-künstlerische Schöpfer genauso wie der Rezipient leicht vom Hunsrück in das Griechenland der Mythen.

Bei Emrich bezeichnet der Begriff die Beziehung zwischen ‚Ich und Du‘ (Martin Buber), den „interpersonalen Raum“, in dem etwas „Besonderes passiert“: In diesem Raum ereigne sich die „Epiphanie“: Ein „Wesen“ entstehe, eine „Beseelung“ vollziehe sich (S. 57). Was bisher noch als starker Gebrauch von Metaphern erschien, tritt nun als überbordender Essentialismus hervor. Das Erzählen hat nicht nur ein Wesen, es ist eines – und verfügt darüber hinaus über Intention und Handlungsfähigkeit: Es ist „der, der dann erzählt“ und tritt somit als „dritte Person“ zwischen Autor und Rezipient (S. 63).

In dieser Weise entwickeln sich auch die weiteren Texte des Buches: Reitz schildert anschaulich die Realität des Filmemachens, vergleicht erzählerische Mittel der verschiedenen Künste, urteilt über 3-D-Filme und schimpft auf das Fernsehen. Emrich flicht seine Gedanken zur menschlichen Verfasstheit an sich ein. An vielen Stellen ist das interessant, zugespitzt und oft auch ungerecht, wie so häufig in Gesprächen zwischen Vertrauten.

Vielleicht ist damit jener befremdliche Schluss zu erklären, wenn Reitz‘ Frustration über das Fernsehen in der Behauptung gipfelt, es handele sich hier um „anonyme Medien […], die in sich ein böses Geheimnis verbergen“. Daraufhin fällt sein Partner ein: „Sie sind im Grunde dämonisch.“ Das könne man auch daran sehen, dass die Briefe, die Reitz an den Südwestrundfunk schicke, nicht mehr beantwortet würden. Dieses Verhalten zeige, so sind sie sich einig, dass es im „Apparat“ eine unausgesprochene „Verabredung“ gegen Reitz gebe, eine „magische Synchronisation“, wie es Emrich formuliert (S. 134). Hier zeigt sich vor allem eines: dass der Schüren Verlag es versäumt hat, einen verdienten und zu Recht geachteten Künstler vor seiner selbstverschuldeten Demontage zu schützen. Das schlampige Lektorat fällt dagegen überhaupt nicht mehr ins Gewicht.

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Über das BuchHinderk M. Emrich, Edgar Reitz: Der magische Raum. Gespräche zur Philosophie des Kinos. Marburg [Schüren] 2016, 160 Seiten, 19,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseHinderk M. Emrich, Edgar Reitz: Der magische Raum. von Mehling, Gabriele in rezensionen:kommunikation:medien, 2. Februar 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19831
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