Niklas Barth: Gesellschaft als Medialität

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

“Wovon reden wir eigentlich, wenn wir von ‘Gesellschaft’ reden?” fragt sich Niklas Barth in seiner für die Drucklegung überarbeiteten Dissertation (22). Er greift damit die Grundsatzfrage seines Doktorvaters Armin Nassehi auf, die dieser 2017 im Rahmen der Hegel-Lectures an der FU Berlin gestellt hat. Beantworten will er sie in mehrfacher Hinsicht: Zu einem, indem er das überkommene, mittlerweile angeblich vielfach in Frage gestellte Selbstverständnis der Soziologie, ihre zentralen Begriffe und ihr methodisches Vorgehen kritisiert und die Beschreibung von Gesellschaft “nicht mehr auf ein strukturelles Dahinter”, sondern mittels eines mediologischen Blicks auf das “Dazwischen”, auf die “praktische Vermittlung des Sozialen” (43) ausrichtet. Zum anderen will er in fünf Fallstudien “unterschiedliche Ökologien des medialen Alltags” bzw. “unterschiedliche Medienformen” erkunden (14) und so eine “Gesellschaft(stheorie) der Gegenwarten” (17)  (Nassehi) entwerfen, die Gesellschaft als “reine Medialität” begreift.

Den Medienbegriff muss er dafür hin auf das Mittelbare generalisieren, wie Medium vor der massenmedialen Evolution und auch in der funktionalistischen bzw. systemtheoretischen Soziologie – etwa von Simmel, Parsons, Innis, McLuhan und Luhmann – verwendet wurde und wird. Dass dadurch der Medienbegriff noch “diffuser” wird, wie der Autor der gesamten Medienforschung ankreidet (62), nimmt er in Kauf. Daher ist man nie ganz sicher, auf welchen Medienbegriff er sich gerade bezieht, etwa entweder auf Sprache, Geld oder technische Medien. Denn ihm geht es darum, wie er mehrmals betont, eine “allgemeine Soziologie der Medien” zu entwerfen (und nicht eine “spezielle Mediensoziologie”) sowie – mit Blick auf die schon genannten Medienformen – die “Medialität der Medien als allgemeines ‘heuristisches Prinzip'” ins Zentrum seiner Betrachtung zu stellen.

Für ihre Konzipierung scheint ihm eine “funktionalistische Medientheorie” am geeignetsten, die er im 3. Kapitel aufwendig entwirft – und zwar recht elementar, aber ohne die wissenschaftstheoretischen Hypotheken der funktionalistischen Theorie überhaupt zu erwähnen. Mit häufigen Rekurs auf seine favorisierten Gewährsleute Luhmann und Nassehi als Systemtheoretiker und Kittler als Kulturtheoretiker, diskutiert er relativ beliebig gesetzte Attribute von Medien als  Elemente ihrer “Medialität” (65ff): Materialität bzw. Dinghaftigkeit, “Alterität”, Funktionalität, Institutionalität, Brutalität, Operativität, Symbolik, Diabolik, Generativität, Archäologie, Informativität, Formalität und Selektivität. Sie alle sollen dazu beitragen, eine umfassende funktionalistische Medientheorie zu formen, in der Sinn “konsequent zu seiner Funktion der Medienformen umgebaut” wird, Sinn gewissermaßen als “eine Art ‘Universalmedium'” fungiert oder er sich als Modell “in den Medien bildet” (118f).

Dabei unterlaufen dem Autor fortwährend Formulierungen, die Medien als handelnde Akteure subjektivieren: Medien “mediatisieren” beispielsweise Sinn (73), sie formen unwahrscheinliche in “wahrscheinliche Kommunikation” um (77), entreißen die Sozialität “ihrer fundamentalen Kontingenz” (80), entscheiden über die Anschlussfähigkeit der Kommunikation (87), sie katalysieren oder produzieren sogar “(überschüssigen) Sinn” (92), sind “grundsätzlich generativ” und “erzeugen das, was sie vermitteln” (94), und letztlich “ändern sie Gesellschaft, die mit ihr kommunizieren” [sic] (107). So wird das (menschliche) Subjekt a limine entsorgt und mit folgendem Satz dem systemtheoretischen Denken Genüge getan: “Das Subjekt einer Handlung ist eine kommunikative Erfindung, ist nur eine Funktion der Kommunikation und ihrer medialen Vermittlung” (91). Doch zugleich legen besagte Formulierungen kausale Bezüge nahe, die eigentlich im Widerspruch zur Systemtheorie stehen und die “funktionalistische Medientheorie” reichlich inkonsistent erscheinen lässt. Ob die folgenden “Fallstudien” sie substantiieren und konkretisieren können, wird sich zeigen.

Zunächst sind die Fallstudien nach sozialwissenschaftlichen Standards und Methoden, ob quantitativ oder qualitativ, nicht empirisch. Denn weder sind ihre Untersuchungsgegenstände und die -zeiträume definiert noch ihre Reichweite und damit ihre Validität expliziert. Eher handelt es sich um beliebige, heuristische Sondierungen in speziellen Handlungsbereichen, die dem Autor als evidente Belege oder Anschauungen im Detail seiner bereits getroffenen theoretischen Annahmen dienen sollen. In der ersten Fallstudie will er zeigen, dass “die Idee der Kommunikation innerhalb der medialen Ökologie des Netzwerks Facebook nicht nur auf Interaktion und Dialog beruht, sondern auch auf einer sekretärischen Arbeit am Selbst” (145). Immer mehr mutiere die Nutzung von Facebook zu einer “auf Dauer gestellten gegenseitigen Beobachtung” (ebd.). Das mag vielfach so sein, doch immer noch entscheiden die User*innen selbst ihre Gebrauchsmodalitäten. Solange keine validen Proportionen über sie vorliegen, bleibt es bei mehr oder weniger plausiblen Behauptungen.

In der zweiten Fallstudie kommen immerhin einige User*innen zu Wort, allerdings in knappen, undefinierten Ausschnitten. Sie behandelt grundsätzlich, mit vielen theoretischen Rekursen, das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit und postuliert, dass “Formen der Privatheit stets eine Funktion der Medien sind” (147). Mit den sozialen Netzwerken üben die User*innen “Formen der Affektkontrolle, der temperierten Indifferenz”, der “coolen Kommunikation”, gewissermaßen einen Verhaltenskodex “der Kälte” ein (180).

In der dritten Fallstudie geht es um Deformationen der Öffentlichkeit, wie sie “Haten, Flamen, Trollen” (180) und andere asoziale Praktiken markieren. Wiederum mit Bezug auf einige Interviewausschnitte lassen sich offenbar private Zirkel entdecken, die unter Ausschluss der Netzöffentlichkeiten in geschlossenen Foren und Gruppen diskutieren und so partiell intime Öffentlichkeiten generieren. Dafür hätte man gern einige konkrete Beispiele präsentiert bekommen.

Die vierte Fallstudie fokussiert sich auf “den Eigensinn des Theatralen” und damit auf die “Medialität dessen, was man als Bühne bezeichnen könnte” (205). Am Beispiel des “Theater der Limitierung“ (205ff.) des Dramatikers und Regisseurs René Pollesch, der ab 2021 die Intendanz der Berliner “Schaubühne” übernehmen soll, will Barth exemplifizieren, dass das Theater heute eine “Tragik der Kommunikation” (225) dergestalt sichtbar macht, dass weder das Theater noch der Alltag in einer “medial verdoppelten Welt“ (ebd.) aus dem “Spiel der Inszenierungen“ (ebd.) ausbrechen kann.

Die letzte Fallstudie befasst sich mit der “Medialität des Forschungsprozesses selbst”. An “episodischen Interviews mit Ärztinnen und Ärzten” darüber, welche Motive oder auch Hemmnisse sie haben, um sich als Allgemeinmediziner*innen auf dem Land niederzulassen, entdeckt Barth “unterschiedliche Formen der Erzählung”, die er als “Medien der narrativen Welterzeugung” deutet, die “Räume für bestimmte Erzählbarkeiten eröffnen“ (226). Er lässt seine wiederum breit angelegte Auswertung in eine allgemeine Kritik der Soziologie münden, dass sie zu “wenig” das “mediale Substrat ihrer Analysen reflektiert”; vielmehr müsse sie die “radikale Medien- und Beobachterabhängigkeit alles Beobachteten” in den Fokus des Forschungsprozesse rücken (ebd.). Sicherlich ist diese Forderung nicht unberechtigt; aber gerade die qualitative Forschung hat für dieses Anliegen bereits einiges vorzuweisen, und man hätte schon gern gewusst, ob dies Barth noch nicht genügt und welche konkreten Defizite er sieht. So ist sein Appell zu pauschal und etwas wohlfeil. Umgekehrt ist er an den Äußerungen und an den sozialen Zusammenhängen der Motive und Gründe seiner Probanden kaum interessiert, was gemeinhin das hauptsächliche Erkenntnisinteresse der Sozialforschung ist.

Im 5., dem vorletzten Kapitel, sucht Barth seine theoretischen Ausführungen und die Befunde seiner Fallstudien zu einer “funktionalistischen Theorie“ zusammenzuführen, und zwar mit der Hauptthese, es sei “immer noch eine Information”, die “Medialität der Medien konsequent als Erklärungsmodell sozialer Ordnung zu betonen” (262). Wie schon so oft bemüht er das Prädikat der Originalität für seine Ausführungen; dabei bleibt bereits unklar, ob der gewählte Terminus bloß tautologisch ist oder eine zweite Abstraktionsebene, gewissermaßen eine ‘Meta-Medialität’, impliziert, ohne dass überhaupt expliziert ist, was die Medialität der Medien ausmacht.

Schlichter ist schon der spätere Hinweis, es ging um die “Vermittlungen des Sozialen” (262). Doch diese werden nicht nur medial erzielt, sondern ebenso durch unzählige direkte, persönliche wie soziale Interaktionen und Kommunikationsakte, wofür allein schon das komplexe Feld der Sozialisation vielfältige Indizien und Konstellationen bietet. Aber mit konkreten Elementen des Sozialen hat es der Autor nicht, ebenso wie er es an nachvollziehbaren Vorstellungen und Beschreibungen von ‘Gesellschaft’ vermissen lässt. Sie bleibt abstrakte Hintergrundfolie, vor der die Medialität der Medien vielfach beschworen wird: einerseits mit recht essayistischen Attributen wie “Latenz”, “Moral”, “Poetik der Medien”, die freilich ohne jede Systematik und wechselseitige Referenz bleiben, andererseits indem die darunter erneut verfassten Begrifflichkeiten ohne stringente Bezüge und ohne fokussierende Conclusio – bis auf die schon bekannten Grundelemente – angeführt sind.

Ob besagte Medienformen die “Figurationen von Gesellschaft” (266) abbilden oder gar bewirken oder ob sie ‘nur’ als Objektive oder gar Filter für die Beobachtenden fungieren und damit deren Wahrnehmung und Erkenntnis prägen, wird nicht klar. Bei Letzterem wäre “Gesellschaft [nicht] Medialität” (288), wie der Autor mehrfach pauschal behauptet, vielmehr wäre Medialität im konstruktivistischen Sinne als Baustein oder Funktion von Erkenntnis zu verstehen. Hingegen irritiert er abermals mit unverständlichen Behauptungen wie: “Medien [seien] in ihrem praktischen Vollzug unsichtbar” (267). Oder: “Medien lassen sich […] als Lösung für das Problem der Strukturbildung beschreiben” (264). Oder: “Medien vermitteln […] Bildung, Variation und Stabilisierung von Sinn, indem sie diese Operationen in der Zeit verflüssigen” (270) – mithin Sentenzen, deren Sinn, erst recht deren Erklärungspotenzial sich nicht ohne weiteres erschließen, die gleichwohl im Pathos der Unbezweifelbarkeit daherkommen.  

“Müsste man nicht eine Form der Erklärung und Beschreibung des Sozialen finden”, fragt sich Barth am Ende als “Ausblick” (278), “die es vermeidet, mit den Figuren ‘Struktur’ oder ‘Identität’ so etwas wie einen deus ex machina auf die Bühnen des Sozialen […] herab fahren zu lassen”. Erstmals bezieht er mit seinen wissenschaftstheoretischen Kronzeugen Luhmann und Nassehi eine historische Dynamik ein: Die Erfindung des Buchdrucks habe die Idee der Kommunikation, die Verbreitungsmedien und damit auch die Beschreibung von Gesellschaft verändert. Entsprechend sei zu vermuten, dass auch die “digitale Gesellschaft”, die hier zum ersten Mal erwähnt wird, technische Beobachtungsmittler (Medien) hervorbringt, die nicht nur passiv in der Kommunikation auftauchen, sondern “selbst sinnerzeugend auf die Kommunikation und damit auf die Selbstbeschreibungs- und Beobachtungsroutinen dieser Gesellschaft wirken” (282). Nicht mehr sei es nur plausibel, “die Welt auf Daten hin zu beobachten, sondern auch daraufhin, wie sich daraus die Kommunikation der Daten als Realität sui generis ausdifferenziert” (283).

Darüber lässt sich diskutieren, und das wird es ja längst viel. Aber bei Barth bleibt erneut unklar, wer Subjekt und was bewirktes Objekt ist. Und wenn solche Zusammenhänge am Ende vollends als “Politik der Medien” (277ff.) gefasst werden, “durch die selbst jene Beschreibungen vermittelt werden, durch die sich eine Gesellschaft versucht zu beschreiben” (284), verstärken sich die Zweifel. Eine andere Soziologie, die rekursiver und reflexiver ihre Erkenntnis- und Forschungsprozesse anlegt und kontrolliert, dürfte sich so nicht realisieren lassen. Wenn aber letztlich die Abschaffung dieser Disziplin oder ihre Auflösung in einer wie auch immer gefassten, ungleich breiter angelegten Mediologie als Universalwissenschaft abgestrebt wird, wäre die umfängliche, schwer zu enträtselnde Argumentation nicht unbedingt erforderlich gewesen.

Links:

Über das BuchNiklas Barth: Gesellschaft als Medialität. Studien zu einer funktionalistischen Medientheorie. Bielefeld [transcript] 2020, 324 Seiten, 40,- EuroEmpfohlene ZitierweiseNiklas Barth: Gesellschaft als Medialität. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 23. März 2021, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22687
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