Andrea Bartl, Markus Behmer (Hrsg.): Die Rezension

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Holger Noltze

Einzelrezension
“Wo steht das Rezensionswesen heute?“, das ist hier (14) die Frage. Sie zielt auf das Wesen der Literaturkritik, “ein faszinierendes Feld interdisziplinärer Forschung“ (17). Neunzehn Beiträge, die überwiegend auf eine im Sommer 2015 an der Universität Bamberg stattgefundene Tagung zurückgehen, umkreisen das Feld, und sie beleuchten es in der Tat interdisziplinär: germanistisch, soziologisch, system- und medientheoretisch, ökonomisch, feuilletonistisch, literarisch, pragmatisch.

Die Herausgeber haben diese Perspektiven sinnvoll zu Kapiteln geordnet. Eine (erwartbare) historische Herleitung wird dabei erfreulicherweise übersprungen; auf die ironische Reflexion einer literarkritischen Urszene (“Die Juroren“) von Filiz Penzkofer und einer von der Selbstversessenheit der Kritiker genervten Einlassung des Journalisten Knud Cordsen (“Germanistenporno“) eröffnet Stefan Neuhaus den Sachteil des Bandes.

Sein Beitrag zum Stand der Literaturkritik kommt nicht ohne den offenbar unumgänglichen Topos aus, die Klage über die Literaturkritik sei so alt wie diese selbst (33). Bourdieu, Luhmann, Enzensberger sind die Kronzeugen einer einleuchtenden Verortung des Gegenstands “im Spannungsfeld von Kunst und Ökonomie“ (41), auch die auf den Kritiker Hubert Winkels zurückgehende Kritikertypologie ist hilfreich, nach der “Emphatiker“ und “Gnostiker“ zu unterscheiden seien, getrieben von Leidenschaft (oder deren Simulation) oder, andersherum einseitig, von der Freude an der Zergliederung und intellektuellen Durchleuchtung der sprachlichen Kunstkonstruktion; hilfreich, insofern sich die “Emphatiker“, was Wirksamkeit und Wahrnehmbarkeit angeht, klar durchgesetzt haben. Dafür spricht schon der außerordentliche Erfolg der populären Emphatikerin Elke Heidenreich, deren Einladungen zum Mitfühlen vor Jahren noch erheblichen Einfluss auf das lesende Publikum hatten.

Entsprach schon Heidenreich nicht mehr dem Bild einer klassischen Kritikerin, sondern eher dem einer besonders emphatisch begabten Leserin, geriet das Feld mit der wachsenden Bedeutsamkeit von Laienrezensionen, insbesondere der “Kundenbewertungen“ des Internethändlers Amazon unter Druck. Neuhaus’ Fazit, diese Veränderung werde “je nach Standpunkt eher als Chance oder als Risiko, als Demokratisierung oder als Banalisierung bewertet“ (54), ist schlechterdings nicht zu widersprechen. Dass die Bestimmung dessen, was denn den Unterschied ausmache zwischen professionellem Rezensentenwesen und dem veröffentlichten Kundenfeedback, sich an Rechtschreibfehlern und argumentativen Unschärfen abarbeitet, lässt ahnen, wo die Vorlieben des Autors liegen. Seine Empfehlung, statt über schreibende Leser zu klagen, lieber den Elfenbeinturm zu verlassen und eine Kriteriendiskussion um die gesellschaftliche Bedeutsamkeit von Literatur anzustoßen, wirkt insofern wenig ansteckend.

Man möchte nicht klagen, und doch schimmert auch in anderen Beiträgen das Bedauern über den verlorenen Glanz der klassischen Literaturkritik matt durch das Nachdenken über die Frage, wo das Rezensentenwesen denn heute stehe. So auch bei Martin Hielscher, Lektor des C.H.Beck-Verlags; die Zeiten, in denen die deutschsprachige literarische Welt von einem “Papst“ und einer Handvoll Kritikerkönigen dominiert wurde, seien vorbei, “wir leben nicht mehr in einer Monarchie“ (328) – doch die Freude an der internetgetriebenen Demokratisierung des Diskurses fällt verhalten aus.

Dem Superkritiker Marcel Reich-Ranicki ist ein eigenes Kapitel gewidmet, der etwas strapazierten Ambivalenz-Denkfigur des Bandes folgend wenig überraschend als “Leitbild und Problemfigur“ fokussiert, auch als selbst literarisierte Romanfigur bei Martin Walser und Bodo Kirchhoff. Die von Alexa Ruppert auf den doch interessanten Fall applizierte “possible-worlds theory“, dass nämlich prominente Schriftsteller sich mit den Mitteln der Fiktion mit dem Großkritiker auseinandersetzen, erbringt wenig mehr als das etwas hochtrabende Resumée: “Literatur kann so als Raum zur Entwicklung und zum Erkennen von Konzepten und Identitäten begriffen und erfahren werden. Damit wird sie zu einer wichtigen Komponente der menschlichen Existenz und trägt trotz ihres fiktiven Charakters zur Bildung unserer Realität bei.“ – Man möchte, mit einem Romantitel Eckhard Henscheids beipflichten: “Geht in Ordnung – sowieso – genau.“

Neben Reich-Ranicki ist der Autor und Betriebsmitschreiber Rainald Goetz eine zweite wiederkehrende Bezugsgröße. Wie rezensiert das Feuilleton den literarischen Betriebsrezensenten Goetz, fragt David-Christopher Assmann. An dieser Stelle werden die Grenzen zwischen Kritik und der Mitschrift des allgemeinen “Loslaberns“ porös; wie am anderen Ende die zwischen professionellen Rezensionen und neueren Formen öffentlicher Behandlung von Literatur.

Holger Kellermann und Gabriele Mehling haben Laienrezensionen auf Amazon analysiert; Inhaltsangaben, Alltagskommunikation und – überwiegend –Gefallensbekundungen stehen im Vordergrund. Solche Rückmeldungen können in den peer-groups einige Wirkung entfalten. Doch die Öffnung von Kontexten, die Einordnung und “Symptomatisierung“ der literarischen Produktion bleiben eher der zünftischen Kritik vorbehalten. Dominik Achtermeier gibt Einblick in die Szene der Buchblogger, Katharina Lukoschek skizziert das Nischenphämomen der “Social Reading-Communities“ als vor allem auf das Bedürfnis nach Austausch gerichteten Kommunikationsraum: keine Konkurrenz zur Literaturkritik. Auch die Videorezensionen der “booktuber“, die Ina Brendel-Perpina untersucht hat, geben vor allem “Informationen über den eigenen Leseprozess“ (269). Martin Rehfeldt empfiehlt Leserrezensionen als wertvolle Dokumente für die Rezeptionsforschung. Schließlich wird der Buchladen als auch in Zeiten des online-Handels wichtiger Ort der Literaturvermittlung gewürdigt.

Der Band ist umsichtig komponiert und bei aller Heterogenität der Zugangsweisen konsistent, was die Einordnung der behandelten Aspekte in den jeweiligen Forschungskontexten betrifft. Die Textsorte Rezension gerät dabei gelegentlich aus dem Blick. Auch etwas mehr Mut zur Positionierung, womöglich Spekulation, wie und wo man sich eine Zukunft der Rezension als Raum öffentlicher Erkenntnisarbeit (nicht nur über Bücher) denn vorstellen könnte, hätte nicht geschadet. Mancher Beitrag bricht da ab, wo es erst spannend werden könnte. So liegen der Nutzen und Wert des Buchs weniger in zuspitzender Argumentation, sondern in einer insgesamt validen Beschreibung eines durch die digitale Revolution radikal veränderten Felds.

Links:

Über das BuchAndreas Bartl, Markus Behmer (Hrsg.): Die Rezension. Aktuelle Tendenzen der Literaturkritik. Würzburg [Königshausen & Neumann] 2017, 345 Seiten, 49,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseAndrea Bartl, Markus Behmer (Hrsg.): Die Rezension. von Noltze, Holger in rezensionen:kommunikation:medien, 24. Januar 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20918
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