Nadine Scherr: Die Übersetzung amerikanischer Texte in deutschen Printmedien

Einzelrezension
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Rezensiert von Ursula Stachl-Peier

Die Übersetzung amerikanischer Texte in deutschen PrintmedienEinzelrezension
In ihrer Dissertation, die nun unter dem Titel Die Übersetzung amerikanischer Texte in deutschen Printmedien in der von Peter Lang herausgegebenen Reihe Mainzer Studien zur Amerikanistik erschienen ist, untersucht Nadine Scherr die Auswirkungen von Medientext-Übersetzungen auf die “Kulturmittlung zwischen den USA und Deutschland” – ein Bereich, in dem die Autorin noch reichlich Forschungsbedarf ortet. Die Ergebnisse ihrer umfassenden Analyse von “defizitären” Übersetzungen sind, so die Autorin einleitend, für mehrere Disziplinen von Belang: Für die Amerikanistik kann die Studie “wertvolle Kenntnisse darüber liefern, inwiefern die Darstellung der USA in deutschen Printmedien durch Übersetzungen beeinflusst wird”, für die Übersetzungswissenschaft zeigt sie “welche Schwierigkeiten bei der Übersetzung medialer Texte bestehen und wie auf diese bei der Ausbildung der Übersetzer […] reagiert werden muss”, für die Kommunikations- und Medienwissenschaft und die journalistische Praxis wird festgestellt, “wie erfolgreich die in journalistischen Handbüchern aufgestellten Regeln zur sprachlichen Gestaltung der Texte bei der Übersetzung umgesetzt werden” (18).

Für ihre Untersuchung wendet Scherr einen von Fairclough (1995) inspirierten diskursanalytischen Ansatz an. Bedeutungsverschiebungen zwischen Ausgangstext(en) und Übersetzung werden auf Wort-, Satz- und Textebene analysiert und dahingehend beurteilt, ob dadurch die im Original neutral gehaltene oder positive Darstellungen US-amerikanischer Gegebenheiten im Zieltext ins Negative verkehrt wird. Alle Veränderungen werden zudem nach journalistischen Kriterien kategorisiert, d. h. es wird festgestellt, ob mit der ‘Falschübersetzung’ gegen das Gebot der Verständlichkeit, Richtigkeit, Objektivität oder Authentizität – von Scherr als “Echtheit als authentische Darstellungen des Stils des Autors und der Atmosphäre des Ausgangstextes“ definiert (93) – verstoßen wird.

Insgesamt untersucht die Autorin 40 Nachrichtentexte (von AP und AFP) und sechs längere Reportagen. Viele der dabei gewonnenen Erkenntnisse sind durchaus interessant. So hat Scherr sicherlich recht, wenn sie nach Vergleich der englischen Vorlage “A man who killed a police dog after jumping off a bridge with the animal, following a high-speed car chase in California, was on Wednesday jailed for 44 months“ mit der deutschen Version “Weil bei seiner Verfolgung ein Polizeihund getötet wurde, muss ein Mann in den USA für fast vier Jahre hinter Gitter“ (125) konstatiert, dass damit das “Bild strengerer Verurteilungen in den USA im Vergleich zu Deutschland“ (126) bestätigt wird. Ebenso ist der Perspektivenwechsel bei der Übersetzung von “US to seek seat on UN Human Rights Council“ als “USA beenden Boykott des UN-Menschenrechtsrats“ (149) zu hinterfragen, wie auch die Verwandlung des “financier George Soros“ in den “Spekulanten Georg Soros“ (171). Bei anderen ‘Verfehlungen’ ist die prognostizierte Wirkung auf die LeserInnen eher zu bezweifeln. Wird in einem Text über Präsident Obamas politisch unkorrekte Aussage wirklich ein völlig falsches Bild vermittelt, wenn Special Olympics (für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung) durch Paralympics (für Menschen mit körperlicher Behinderung) übersetzt wird (101)? Zuweilen scheinen auch, trotz langer Zitate aus Wörterbüchern, der Autorin doch nicht alle Bedeutungen eines Wortes bekannt zu sein. So wird behauptet, dass “verteidigt” negativer sei als “explain“, was im zitierten Kontext (“The president used the session to explain his massive budget plan …“ [111]), fraglich ist. Auch “protest“ ist nicht immer “empörter Protest“, wie die Autorin meint, sondern im gegebenen Kontext durchaus im Sinne von “ungläubig fragen“ zu verstehen: “Can soft power really be imperial power, protests the American?“ (174).

Bei vielen der kritisierten ‘Defizite’ stellt sich außerdem die Frage, ob sich Scherr bei der von ihr diagnostizierten Auswirkung auf die Rezeption durch die LeserInnen nicht doch zu sehr von ihrer Grundannahme, dass deutsche Zeitungen ein eher negatives Bild der USA vermitteln, leiten lässt. Die Genauigkeit, mit der jede semantische Verschiebung aufgespürt und darauf überprüft wird, ob der Verstoß gegen die journalistischen Regeln auf eine USA-kritische Haltung der übersetzenden Journalisten zurückzuführen ist, mutet oft beckmesserisch an. So wird z. B. die Übersetzung einer Nachricht über Feiern anlässlich des St. Patrick’s Day, in der die Chicagoer Tradition des “dyeing the river green“ im Deutschen zum “Grünfärben der Illinois-Wasserstraße” wird, kritisiert, weil sie deutsche Vorstellungen der wenig umweltbewussten Amerikaner Nachschub leistet (107).

Besonders bedenklich ist die oftmals geäußerte Kritik, dass bei der Textsorte Nachrichten in der deutschen Version Informationen ausgelassen oder hinzugefügt wurden. Hier scheint die Autorin nicht nur zu vergessen, dass “die deutschen Versionen oftmals keine direkte Übersetzung eines einzigen amerikanischen Textes darstellen“ (65), sondern auch ihr im Methodikteil vorgestelltes Bewertungsschema für die untersuchten Translate zu ignorieren. Unter Bezugnahme auf Reiß (1986) und House (1977/1997) fordert Scherr dort für Nachrichten als “inhaltsbetonte Texte” eine covert translation, d.h. eine Übersetzungsstrategie, die die richtige Übermittlung von Fakten garantiert (vgl. 60), es Übersetzern aber erlaubt, “einen kulturellen Filter“ anzuwenden und den Text für das Zielpublikum anzupassen (69).

Zu hinterfragen sind auch Scherrs Empfehlungen für die Textsorte Reportagen, also “inhalts- und formbetonte Texte“, für die eine overt translation, d. h. eine grundsätzlich “verfremdende“ Übersetzung, vorgeschlagen wird, bei der zwar Elemente “einer an die Bedürfnisse der Zielleser angepassten Übersetzung“ zur Anwendung kommen dürfen (69), der Ausgangstext jedoch “in seiner ursprünglichen Form und Sprache“ erhalten bleiben soll, weshalb das “Original möglichst wortgetreu übersetzt werden [muss], um bei den Ziellesern möglichst den gleichen Eindruck zu erzeugen“ (61). Abgesehen von grundlegenden Vorbehalten gegenüber der Vorstellung vom ‘gleichen Eindruck’ haben translationswissenschaftliche Studien gezeigt, dass gerade wortgetreue Übersetzungen irreführend sein können (vgl. z. B. Hatim und Mason 1997, 148-152).

Die Forderung der Autorin, dass bei Übersetzungen vermehrt Augenmerk auf etwaige ideologisch bedingte Veränderungen gelegt und nicht das stereotype Bild vom Amerika der Umweltverschmutzer, Waffennarren, sozialen Klüften etc. perpetuiert werden sollte, ist durchaus zu unterstützen. Die vorgeschlagene Lösung, nämlich “professionell angefertigte Übersetzungen“, bei denen es nicht zu “textuellen Veränderungen“  kommt, ist aber fragwürdig und basiert auf einem sehr engen Übersetzungsbegriff. Trotz berechtigter Kritik an funktionalen Ansätzen ist im Bereich des medialen Übersetzens davon auszugehen, dass der Übersetzungsauftrag und Vorgaben zur Textgestaltung einen wesentlichen Einfluss auf das Produkt haben (vgl. van Doorslaer 2010). Spannender als nur die Aufdeckung von ‘Defiziten’ wäre daher eine Untersuchung gewesen, die auch zeigt, wie textuelle und kulturelle Anpassungen in Redaktionen erfolgen und welche Prozesse und Machtkonstellationen hierbei zum Tragen kommen.

Literatur:

  • Fairclough, N.: Media Discourse. London [Arnold] 1995
  • Hatim, B.; Mason, I.: The Translator as Communicator. London/New York [Routledge] 1997
  • House, J.: A Model for Translation Quality Assessment. Tübingen [Narr] 1977
  • House, J.: Translation Quality Assessment: A Model Revisited. Tübingen [Narr] 1997
  • Reiß, K.: Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzungskritik: Kategorien und Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung von Übersetzungen. 3. Aufl. München [Hueber] 1986
  • van Doorslaer, L.: The Double Extension of Translation in the Journalistic Field. In: Across Languages and Cultures 11(2), 2010, S. 175–188.

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Über das BuchNadine Scherr: Die Ãœbersetzung amerikanischer Texte in deutschen Printmedien: Eine Analyse der Textsorten “Nachricht” und “Reportage” vor dem Hintergrund der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Reihe: Mainzer Studien zur Amerikanistik, Band 62. Frankfurt a. M. [Peter Lang] 2013, 280 Seiten, 57,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseNadine Scherr: Die Übersetzung amerikanischer Texte in deutschen Printmedien. in rezensionen:kommunikation:medien, 16. September 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16936
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