Bernhard Brunnsteiner: Die Lügner-Paradoxie

Einzelrezension
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Rezensiert von Hellmut Winter

Einzelrezension
Bei diesem Buch, zugleich die Dissertation des Verfassers (Graz, 2008), handelt es sich weder um eine “Philosophie-Geschichte des Widerspruchs” noch um eine solche der analytischen Philosophie, wie im Vorwort behauptet wird (10), sondern am ehesten um einen Aufriss, der zentrale Positionen der philosophischen Debatte um Paradoxien im 20. Jahrhundert referiert. Bernhard Brunnsteiner geht vom Phänomen der Rück- bzw. Selbstbezüglichkeit aus, wodurch sowohl bestimmte Sätze und Aussagen als auch “Phänomene der realen Welt” (23) – Dampfmaschinen, Thermostate, menschliche Handlungen usw. – gekennzeichnet seien.

Was Brunnsteiner demnach interessiert, sind nicht Paradoxien im Allgemeinen, sondern “Paradoxien mit Selbstbezug” (10), die in diesem Sinne eine Unterklasse reflexiver Phänomene bilden. Anhand von Beispielen aus Mechanik, Kybernetik, Systemtheorie und Mathematik illustriert er die praktische Einsetzbarkeit und heuristische “Fruchtbarkeit” von Rückbezüglichkeiten: “Phänomene solcher Art scheinen in der Geschichte des abendländischen Denkens oftmals Problematiken zu erzeugen, welche für den Fortgang der Entwicklung des menschlichen Denkens großen Einfluss hatten.” (11)

Vor diesem Hintergrund wird die leitende These des Buches verständlich: Theorien der Paradoxie, so will Brunnsteiner zeigen, seien bis heute ganz überwiegend Theorien zur Vermeidung von Widersprüchlichkeit und verfehlten damit die Möglichkeit, im Umgang mit Paradoxien “den antinomischen Charakter fruchtbar auszunutzen” (102). Hierzu müssten Paradoxien bzw. Antinomien – beide Begriffe werden vom Verfasser synonym verwendet (32) – mittels einer adäquaten theoretischen Konzeption als “‘natürlich’ auftretende Phänomene [verstanden werden], die sich weder vermeiden lassen noch vermieden werden sollten” (160).

Der kommunikationstheoretischen Unterscheidung von Paul Watzlawick folgend (33), werden nacheinander logische (das heißt syntaktisch bedingte), semantische und pragmatische Paradoxien behandelt, wobei nach der Darstellung des jeweiligen Paradoxientypus klassische Lösungsversuche referiert und anschließend kritisiert werden. Für die logische Paradoxie, die der Autor anhand der Russell’schen Antinomie einführt, werden Lukasiewicz’ mehrwertige Logik, das Axiomensystem von Zermelo-Fraenkel und Russells Typentheorie als Lösungsversuche diskutiert; für den titelgebenden so genannten “Lügner” ([L1] L1 ist falsch./[L2] L2 ist nicht wahr.) als Beispiel einer semantischen Paradoxie erneut die Typentheorie Russells, die Sprachstufentheorie Tarskis sowie die Wahrheitswertlückentheorie Kripkes.

Die Ausführungen sind erkennbar für ein nicht einschlägig vorgebildetes Publikum geschrieben. Der Verfasser räumt illustrierenden, auch literarischen Beispielen großen Raum ein und vermeidet systematische Festlegungen. So bleibt zum Beispiel die Diskussion der im deutschsprachigen Raum verbreiteten Unterscheidung zwischen antinomischen Sätzen, deren Widersprüchlichkeit sich mit Mitteln des zu Grunde liegenden Systems selbst beweisen lässt, und paradoxen Sätzen, deren Widersprüchlichkeit sich Voraussetzungen verdankt, “die wiederum selbst nicht zu den Bedingungen des zu Grunde liegenden Systems gehören müssen”(31), ausgespart – und damit auch die Frage, was überhaupt als Paradoxie gelten solle. Der Mangel an systematisch-analytischem Zugriff, der in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zur einleitenden thematischen Einschränkung auf selbstbezügliche Paradoxien steht, verhindert letztlich auch, dass das Buch die orientierende Funktion einer systematischen Einführung übernehmen könnte.

Das zeigt sich zumal in der Darstellung der pragmatischen Paradoxien. Weder spielt Selbstbezüglichkeit hier eine unmittelbar erkennbare Rolle noch wird anhand der angeführten Konzeptionen – der kommunikationstheoretischen Doppelbindungstheorie Gregory Batesons und den Konfliktlösungsmodellen von Gerhard Schwarz – deutlich, ob und inwieweit pragmatisch paradoxe Situationen syntaktische und semantische Widersprüchlichkeit voraussetzen. Obgleich Brunnsteiner also den systematischen Status pragmatischer Paradoxie nicht klärt, will er aus ihrer Darstellung gleichwohl Rückschlüsse auf den Umgang mit Paradoxien im Allgemeinen ziehen: “Aus der Behandlung der Aporien innerhalb des Konfliktmanagements lernt man, wie wenig sinnvoll Vermeidungsstrategien für Paradoxien sind” (117). In einem kurzen Rückgriff auf Erich Fromms Die Kunst des Liebens (2006) wird der von Brunnsteiner angestrebte veränderte Umgang mit Paradoxien zur Synthese von “europäisch”-widerspruchsfreiem und “asiatisch”-paradoxem Denken erhoben: “Darin besteht die Schwierigkeit: die Konstruktion eines Logikkalküls, der die asiatische Tradition der Synthese von Widersprüchen und Gegensätzen beachtet und auf Rückbezüglichkeiten eingeht.” (119)

Die Lösung dieser Aufgabe sieht Brunnsteiner in George Spencer-Browns Laws of Form (1997) vorgezeichnet. Konkret interessiert ihn Spencer-Browns Interpretation des “calculus of Indication” als Logikkalkül, dessen Tauglichkeit zu einer nicht-vermeidenden/verbietenden Lösung von Paradoxien Brunnsteiner im letzten Kapitel belegen will. Dadurch, dass Spencer-Brown seinen Indikationenkalkül “nicht rein syntaktisch, sondern auch semantisch” einführt (128), können Ausdrücke der klassischen Aussagenlogik – wie zum Beispiel Schlussregeln – in ihn übersetzt und ihre “Wahrheit, Falschheit bzw. Kontingenz […] auch ohne die […] Hilfe von [Wahrheitswert-]Tabellen” bewiesen werden (136).

Gleichzeitig aber sei das Indikationenkalkül “von allgemeinerer Natur als die Logik” (139) und anders als die Aussagenlogik daher in der Lage, auch selbstbezügliche Gleichungen zweiten Grades darzustellen. Nach Spencer-Brown werden solche Gleichungen widerspruchsfrei lösbar durch so genannte “imaginäre Lösungen”, die für ihn “Analoga zu den komplexen Werten in der Mathematik” bilden (146). Der imaginäre Zustand, der neben die bislang bekannten Zustände wahr, falsch oder bedeutungslos treten soll, bezeichnet “eine Oszillation zwischen den beiden Zuständen […] wahr und falsch (156). Das Bivalenzprinzip, das in Aussagen vom Typ des “Lügners” zur Widersprüchlichkeit führt, würde demnach nicht aufgehoben oder eingeschränkt, sondern durch die Einführung der Zeit dynamisch gefasst, was “die paradoxe Situation in ein Nacheinander der Zustände auflöst” (156 f.). Brunnsteiner resümiert: “Es ist somit nicht mehr nötig Paradoxien zu vermeiden, da sie im Kalkül notwendig auftreten und sogar gelöst werden können.” (160)

Diese Verallgemeinerung, mit der Brunnsteiner die Einlösung seines Erkenntnisprogramms suggeriert, befremdet. Welche Bedeutung ein Lösungsansatz von zeitlich oszillierenden Wahrheitswerten für den Umgang mit syntaktischen, semantischen und pragmatischen Paradoxien überhaupt haben kann, ist zum Ende der Untersuchung vielmehr völlig unklar, zumal die genannte Voraussetzung für oszillierende Lösungen – Gleichungen zweiten Grades – im Bereich der Aussagenlogik ganz offensichtlich nicht zur Verfügung steht. Der Versuch, einen Bogen von der praktischen Bedeutung von Widersprüchen und Konflikten zum theoretischen Verständnis von Widersprüchlichkeit zu schlagen, verdient Interesse – dass Brunnsteiner diesen Bogen auch überzeugend zu schlagen vermag, muss hingegen bezweifelt werden.

Literatur:

  • Fromm, E.: Die Kunst des Liebens. Mit einem biographischen Nachwort von Rainer Funk. aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel. München [Deutsche Verlags-Anstalt] 2006.
  • Spencer-Brown, G.: Laws of Form – Gesetze der Form. Übersetzt von Thomas Wolf. Leipzig [Bohmeier Verlag] 1997.

Links:

Über das BuchBernhard Brunnsteiner: Die Lügner-Paradoxie. Kleine Philosophie-Geschichte des Widerspruchs. Marburg [Tectum Verlag] 2009, 170 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseBernhard Brunnsteiner: Die Lügner-Paradoxie. von Winter, Hellmut in rezensionen:kommunikation:medien, 16. September 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/3773
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