Irene Ziehe; Ulrich Hägele (Hrsg.): Digitale Fotografie

Einzelrezension
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Rezensiert von Stefanie Loh

Einzelrezension
Mit der Einführung der digitalen Technik in der Fotografie sind widersprüchliche Vorstellungen und Wertungen verknüpft. Während einige Vertreter meinen, es handele sich um ein nicht zu vergleichendes Verfahren respektive um vollkommen unterschiedliche Bilder, verfechten andere die Ansicht, dass nicht der digitale Zustand zu einem grundsätzlichem anderen Umgang mit diesen Fotografien geführt habe, sondern vielmehr die Dimensionen der Verbreitung durch dessen Einbindung in das Internet. Der Band Digitale Fotografie – Kulturelle Praxen eines neuen Mediums stellt sich 20 Jahre nach Einführung digitaler Fotografie die Aufgabe, die widersprüchlichen Positionen um die Frage nach einem Paradigmenwechsel zusammenzuführen. Darüber hinaus formulieren die Herausgeber Problemfelder gegenwärtiger Forschungsbereiche: welche Veränderungen ergeben sich für klassische Felder der Fotografie, welche sind im Bereich nicht professioneller Fotografie zu verzeichnen und letztlich, wie wirkt sich die digitale Fotografie auf die Pragmatik in Archiven und auf Online-Plattformen wie Flickr und StudiVZ aus?

Zu Beginn der Anthologie liefern zwei einleitende Aufsätze einen detaillierten Überblick über die Argumente der Diskussion und zeichnen den Grundtenor des Bandes auf. Rolf Sachsse wirft einen bildanthropologischen Blick auf die Umwertung von Geschichte durch Verhaltensformen, die sich aus einer zunehmenden Auslagerung von Gedächtnis in digitale Speicherformen ergeben. Weil die Erinnerung nicht als etwas Materielles überliefert werde, verändere sich das Verständnis von Alltag und persönlich erlebter Geschichte. Sachsse bezeichnet die Unterscheidung analog/digital als einen Übergang zweier Kulturtechniken des Bildermachens, deren eine Folge es ist, dass das Medium stärker im privaten Bereich genutzt würde – eine Dynamisierung dessen, was bereits Pierre Bourdieu in den 1960ern festgestellt hatte. Auf die Studie Bourdieus beziehen sich viele der folgenden Beiträge.

Ulrich Hägele sieht die wichtigste Neuerung für die Kulturwissenschaft darin, dass der User in den Herstellungsprozess eingebunden sei; eine weitere These, über die weitgehend Konsens besteht. Während sich durch die Entmaterialisierung in technischer Hinsicht ein enormer Wandel ergeben habe, und das Internet die Bildpraxis und -ethik beeinflusse, bleibe auf der Ebene des Abbildes vieles beim Alten. Insofern sieht er in der digitalen Form der Fotografie keinen Paradigmenwechsel, da dies keine Leistung darstelle, die das Bild der Welt und auf die Welt in der Vorstellung einer Gesellschaft grundlegend geändert habe oder prägen werde. Paradigmatisch könne man bestenfalls den Umgang mit digitalen Bildern im gesellschaftlichen Kontext sehen, insofern sich daraus Rückschlüsse auf neue kulturelle Praktiken ergäben.

Einig zu sein scheinen sich die meisten AutorInnen, dass die eingreifenden Neuerungen im Zusammentreffen der digitalen Daten mit ihrer virtuellen Distribution liegen, aus denen andere mediale und soziale Gebrauchsweisen resultieren und die eine Zunahme an nichtprofessionell arbeitenden Nutzergruppen und privater Fotografie mit sich bringen. Vor diesem Diskurs nehmen mehrere Artikel erneut die Begrifflichkeiten ‘Amateur’ und ‘Knipser’ in Augenschein. Neben einigen Anwendungen und Fallstudien, die leider manchmal dort aufhören, wo die Diskussion interessant zu werden verspricht, sind zwei positiv hervorzuheben: die genaue Analyse des Amateurbegriffs von Manuela Barth und der Aufsatz von Susanne Holschbach. Letztere stellt fest, dass Flickr nicht mehr allein als Bildplattform für den nicht professionellen Bereich verstanden werden könne, sondern ebenso als Archiv und Kommunikationsmittel für alle Formen fotografischen Schaffens. Weniger das Bild als Bezugssystem zwischen Zeichen und Bedeutung stehe hier im Fokus, sondern die kommunikative Praxis des Spielens und Tauschens. Erfreulich ist, dass sie darin ein positives Erneuerungspotential für die Fotografie sieht. Weitere fototheoretische Untersuchungen im künstlerischen Bereich wären eine schöne Ergänzung zu den medienwissenschaftlichen Beiträgen des Bandes gewesen.

Hervorgegangen ist er aus einer gleichnamigen Tagung im September 2008 in Marburg, die im Auftrag der Kommission Fotografie der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde stattfand und u. a. in Kooperation mit dem Institut für Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg und dem Bildarchiv Foto-Marburg durchgeführt wurde. Und so endet der Band mit einer ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung Christian Brachts, des Leiters des Bildarchivs, der sich mit den digitalen Implikationen in Archiven und auf Plattformen einem der wichtigsten Themen der aktuellen fototheoretischen Debatte widmet. Er lenkt den Blick nicht auf das Wesen der Bilder, sondern auf ihre Funktion im Archiv. Die Mythen digitaler Fotografie könne man als Ansprüche an ein digitales Bildarchiv übertragen: Eine Gedächtnisagentur möchte idealiter dokumentieren, verlustfrei aufbewahren und öffentlich zugänglich machen. Bracht sieht digitale Fotografie als glückliche Möglichkeit für Archive an, um einen weltweit verfügbaren Bilderatlas durch Vernetzung und mittels Suchmaschinen zu erstellen.

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Über das BuchIrene Ziehe; Ulrich Hägele (Hrsg.): Digitale Fotografie. Kulturelle Praxen eines neuen Mediums. Münster u.a. [Waxmann Verlag] 2009, 169 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseIrene Ziehe; Ulrich Hägele (Hrsg.): Digitale Fotografie. von Loh, Stefanie in rezensionen:kommunikation:medien, 27. Oktober 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/2393
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