Ralf Spiller, Christian Rudeloff, Thomas Döbler (Hrsg.): Schlüsselwerke. Theorien (in) der Kommunikationswissenschaft

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Rezensiert von Jan Niklas Kocks

Einzelrezension

Am Anfang stand das Skript. Wer in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren ein Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft aufnahm, der wurde beinahe zwangsläufig mit dem einführenden Vorlesungsskript eines Empirikers konfrontiert, das sich zum Ziel gesetzt hatte, die vielfältigen und manchmal naiven erstsemestrigen Erwartungen an ein “Was mit Medien”-Studium in wissenschaftliche und vor allem auch systematisierte Bahnen zu lenken. Direkt auf den ersten Seiten stand dort sinngemäß zu lesen: “Die Kommunikationswissenschaft ist eine empirische Sozialwissenschaft und zugleich auch eine Integrationsdisziplin, die sich durch einen Theorie- und Methodenpluralismus auszeichnet.” Dies war zu lernen und sodann im Verlaufe des Studiums auch mit Inhalt zu füllen, was, je nach Ehrgeiz und fachlicher Neigung, mal mehr und mal weniger gut gelang.

Viele Jahre später ist dieser Theorie- und Methodenpluralismus zumindest jenen, die der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft fachlich treu geblieben sind, in Fleisch und Blut übergegangen. Persönliche Bibliotheken, Zettelkästen und digitale Aufsatzsammlungen auf der eigenen Festplatte erscheinen gut gefüllt mit vertiefender Methodenliteratur zu den im Fach prävalenten und persönlich bevorzugten Ansätzen. Woran es aber oftmals noch immer mangelt – dies wird gerade auch dann bewusst, wenn es etwa in der Lehre darum geht, einführende Übersichtsveranstaltungen zu konzeptionalisieren – sind Werke, die den Versuch wagen, diesen Theoriepluralismus in seiner Gesamtheit abzubilden, also gerade nicht nach Teildisziplinen und fachlichen Perspektiven zu beschneiden, sondern eine Art Werkschau der Kommunikationswissenschaft insgesamt zu bieten.

An dieser Stelle setzt der von Ralf Spiller, Christian Rudeloff und Thomas Döbler herausgegebene Band Schlüsselwerke: Theorien (in) der Kommunikationswissenschaft an, der den Versuch wagt, kommunikationswissenschaftliche Theoriearbeit in multiplen Zusammenhängen und auf Mikro-, Meso- und Makroperspektive bezogen abzubilden. In insgesamt 28 Beiträgen unternehmen es Kolleg*innen aus den verschiedensten Teildisziplinen des Fachs, ‘ihren’ Theoriegegenstand in seiner Genese, seinen wesentlichen Fragestellungen und seinem Einfluss auf Diskussionen und Forschung im Fach kurz und prägnant darzustellen.

Als Leser*in wandelt man bei der Lektüre durch eine textuelle Ausstellung dessen, was kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung in über 100 Jahren Fachgeschichte geprägt hat. Den Anfang machen dabei die Ansätze aus Mikro-Perspektive: Von der für die Medienwirkungsforschung bis heute zentralen Erie-County-Studie über den im Zeitalter der Influencer wieder salienter gewordenen Ansatz der parasozialen Interaktion bis hin zum für die politische Kommunikationsforschung ungebrochen aktuellen Third-Person-Effekt und dem so modischen wie auch oftmals missverstandenen Framing-Ansatz werden hier insgesamt acht wesentliche Theorien der Mikro-Ebene fundiert, kurz und verständlich aufbereitet. Überzeugend erscheint, dass die Beiträge – exemplarisch sei hier etwa auf den in diesem Aspekt besonders hervortretenden Beitrag zur Nachrichtenwert-Theorie von Matthias Degen verwiesen – der Versuchung widerstehen, eine lediglich lexikalische Zusammenfassung dessen, was ein Ansatz ‘ist’ zu geben, sondern vielmehr vielfältige Anknüpfungspunkte und fruchtbare weiterführende Literaturhinweise bieten. Letztere könnten gleichwohl stellenweise noch etwas systematisierter dargestellt werden. Dies käme einer Verwendung des Bandes als Sprungbrett in vertiefende Auseinandersetzungen mit den überblicksartig präsentierten Ansätzen zupass.

Ansätze der Meso-Ebene sind Thema des zweiten Abschnitts. Die insgesamt neun Beiträge greifen hier sowohl Klassiker der Medienwirkungsforschung, darunter etwa Agenda Setting, die Schweigespirale oder die Kultivierungshypothese, als auch für die Forschung im Bereich der Organisationskommunikation und (politischen) Öffentlichkeitsarbeit zentrale Ansätze aus dem Bereich des Neo-Institutionalismus, der Organisationstheorie und der Krisenkommunikation auf. Überzeugend erscheint hier insbesondere, dass – beispielhaft sei hier der Beitrag Swaran Sandhus zur (neo-institutionalistischen) Organisationsperspektive nach Meyer und Rowan genannt – trotz der Kürze der einzelnen Beiträge wesentliche Entwicklungslinien vielschichtiger und teilweise auch kontroverser Theorieentwicklung klar herausgearbeitet werden, wodurch für die Leser*innen ein kurzer, prägnanter und trotzdem hinreichend fundierter Einblick in die jeweiligen Ansätze ermöglicht wird.

Der dritte Abschnitt des Bandes stellt schließlich Ansätze der Makro-Ebene in den Fokus. In insgesamt elf Beiträgen widmen sich die Autor*innen hier einer Werkschau sehr diverser Ansätze, von Klassikern wie der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns oder Bourdieus Betrachtung der ‘feinen Unterschiede’ über Halls Kommunikationsmodell bis hin Giddens’ Strukturationstheorie und der Konzeptualisierung einer Netzwerkgesellschaft nach Castells. Den einzelnen Beiträgen gelingt es, selbst komplizierte Ansätze auch propädeutisch überzeugend aufzubereiten, ohne dass dabei für versiertere Leser*innen der Eindruck übergroßer Vereinfachung entstehen würde.

Überzeugend erscheint auch, dass Herausgeber und Autor*innen hier der Versuchung widerstanden haben, lediglich einen ‘Mainstream’ von Makro-Ansätzen abzubilden, demgegenüber dezidiert auch ‘exotischere‘ Ansätze in ihre Übersicht kommunikationswissenschaftlicher Theoriebildung integrieren. Exemplarisch sei etwa auf den Beitrag von Sebastian Sevignani und Julia Polkowski verwiesen zu der – wohl eher ob der politischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehungszeit als ihrer wissenschaftlichen Qualität – oftmals in Vergessenheit geratenen Medientheorie Holzers. Die Breite der Betrachtung in diesem Abschnitt beeindruckt, gleichwohl wäre stellenweise noch etwas mehr Verzahnung zwischen den einzelnen Beiträgen wünschenswert, könnten Berührungs- und Abgrenzungspunkte manchmal noch deutlicher aufgezeigt werden.

In der Gesamtschau liegt mit dem Band von Spiller, Rudeloff und Döbler eine umfassende und interessante Werkschau dessen vor, was kommunikationswissenschaftliche Theorie und Theoriebildung in über 100 Jahren Fachgeschichte ausmacht. Die einzelnen Beiträge sind durchweg von hoher Qualität, erklären fundiert und prägnant und bieten Anregung zur vertieften Auseinandersetzung. Sie fallen im Umfang knapper aus, als dies etwa bei spezialisierteren Bänden zu einzelnen Teildisziplinen der Fall ist, angesichts des zugrunde gelegten Interesses des Bandes erscheint dies aber keinesfalls als Makel. Die Herausgeber selbst verhalten sich dabei, außerhalb ihrer (ebenfalls überzeugenden) eigenen Beiträge sehr zurückhaltend, verzichten abseits des Einleitungskapitels auf einführende Klammern der einzelnen Abschnitte. Dies ist zugegebenermaßen auch Geschmackssache; wie beim Ausstellungsbesuch mag es Publika geben, die auf Einführungstexte und Guides gerne verzichten, um die Werke nach eigenem Ermessen zu betrachten, während anderen mit zumindest kurzen Kontextualisierungen vielleicht doch mehr gedient wäre.

Der Band weiß zu überzeugen, ist charakterisiert durch eine Vielzahl von Stärken und nur sehr wenige, oftmals auch von individuellen Nutzungsinteressen und Rezeptionsgewohnheiten abhängigen Schwächen. Er bietet sowohl für Kolleg*innen in der Hochschullehre, etwa in der Vorbereitung von Einführungs- und Übersichtsveranstaltungen, als auch für an theoretischer Fundierung interessierte Studierende vielfältige Einblicke und Anregungen zur Vertiefung. Den Leser*innen erlaubt er – als Nachschlagewerk zur Navigationshilfe verwendet – die bekannten Fahrwasser der jeweiligen Lieblingsansätze zu verlassen und die Weiten kommunikationswissenschaftlicher Theorie (neu) zu entdecken.

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Über das BuchRalf Spiller, Christian Rudeloff, Thomas Döbler (Hrsg.): Schlüsselwerke. Theorien (in) in der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden [Springer VS] 2021, 455 Seiten, 34,99 EuroEmpfohlene ZitierweiseRalf Spiller, Christian Rudeloff, Thomas Döbler (Hrsg.): Schlüsselwerke. Theorien (in) der Kommunikationswissenschaft. von Kocks, Jan Niklas in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Januar 2023, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/23601
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