Andreas Busch, Yana Breindl, Tobias Jakobi: Netzpolitik

Einzelrezension
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Rezensiert von Wolf J. Schünemann

Einzelrezension
Möchte man eingangs gleich etwas Kritisches zu dem Buch Netzpolitik schreiben, dann dies: Dieser “einführende Überblick”, wie er im Untertitel bezeichnet wird, kommt angesichts der dynamischen Entwicklung des Feldes sehr spät. In vielerlei Hinsicht ist dies aber nur scheinbare Kritik und eigentlich als Kompliment gemeint, denn das Buch füllt eine offensichtliche Lücke auf dem deutschen wissenschaftlichen Buchmarkt und empfiehlt sich als lange Zeit vermisster zugänglicher Einstieg in das breite Themenfeld Netzpolitik. Spät heißt in diesem Zusammenhang also eher endlich als zu spät.

Forschung und Lehre können von dem durch die zwölf Einzelkapitel zuzüglich Einleitung gebotenen Überblick gerade heute, da netzpolitische Regulierungsfragen die politische Debatte und den Gesetzgeber beschäftigen, profitieren. Ein großer Vorteil gegenüber anderen Publikationen in dem Feld besteht dabei in der entschiedenen Ausrichtung auf die Policy-Dimension, die Politik fürs Netz. Der Band konzentriert sich auf Fragen und Zusammenhänge der politischen Governance von Internet und Digitalisierung. Davon weichen lediglich die Kapitel von Julia Schwanholz (Der Deutsche Bundestag als Akteur in der Netzpolitik), Björn Küllmer (Interessenvermittlung der Internetwirtschaft) und Yana Breindl (Die digitale Bürgerrechtsbewegung) auf den ersten Blick ab, indem sie sich institutioneller Entwicklungen und Akteure annehmen. Doch auch dies geschieht in enger Verbindung mit dem übergeordneten Interesse des Bandes an der Politikfeldentstehung in Deutschland. Die in der Politikwissenschaft ohnehin viel stärker behandelte Politics-Dimension bleibt demgegenüber ausgeklammert. Damit können die HerausgerberInnen zu Recht beanspruchen, ein erstes umfassendes Überblickswerk über das Politikfeld Netzpolitik in Deutschland vorgelegt zu haben.

Die vermeintliche Kritik am (zu späten) Erscheinen könnte womöglich auch dadurch begründet werden, dass der Begriff Netzpolitik selbst bereits in die Jahre gekommen ist und im politischen wie akademischen Diskurs von Schlagworten wie Digitalisierung herausgefordert wird. In seinem Beitrag zu Analyserahmen und Theoriediskussion (Ein Analyserahmen und die Theoriediskussion zur Netzpolitik in Deutschland) geht Tobias Jakobi selbst knapp auf diese jüngeren terminologischen Tendenzen ein (vgl. 71-72). Die HerausgeberInnen tun aber gut daran, diesem neuen Trend nicht einfach nachzulaufen. Gerade der empirische Blick auf die Politikfeldentstehung in Deutschland, der die meisten Beiträge prägt, bietet gute Gründe, an der gewählten Bezeichnung festzuhalten.

Passend dazu steht dem Band ein einführendes Kapitel von Andreas Busch voran, das den Untersuchungsgegenstand Internet grundlegend vorstellt. Dabei werden nicht nur die zentralen technischen Innovationen geschildert, sondern auch die Meilensteine gesellschaftlicher Adaption, die “Kultur” des Internets, die daraus erwachsenen libertären Visionen und ihre Spannung mit zunehmend sichtbaren Regulierungsanstrengungen. Die zentrale These, die Busch diesen Beobachtungen unterlegt, ist die des gleichsam planlosen Gewordenseins des Internets. Busch gelingt es, diese These überzeugend zu begründen und mit Beispielen zu illustrieren. Auch der jüngere Umschwung von einer überwiegend euphorischen Betrachtung politischer Partizipationsmöglichkeiten hin zu Ansichten der Online-Kommunikation als “Bedrohungen für die Mechanismen liberaler Demokratien” (47) wird treffend beschrieben. Allerdings zeigt Busch nur wenig kritische Distanz zu den aktuellen, bislang durch empirische Forschung nur unzureichend begründeten Negativszenarien (Echokammern, social bots etc.).

Auf Buschs These des nicht-determinierten Gewordenseins nimmt am ehesten der Beitrag von Yana Breindl zur Internet Governance (Internet Governance: Von der Selbstregulierung zu hybriden Regulierungsmodellen) Bezug. Breindl benennt und erörtert zudem wesentliche jüngere Entwicklungen wie die mögliche “Rückkehr des Nationalstaats” sowie auch ungelöste Legitimitätsprobleme der ‘gewordenen’ Multistakeholder-Arrangements.

Eine Berechtigung hat die Kritik am (zu) späten Erscheinen allenfalls darin, dass sich der für eine Sammelpublikation nicht untypische längere Entstehungskontext des Bandes – Hinweise darauf ergeben sich aus individuellen Danksagungen am Ende der Kapitel – in einigen Beiträgen erkennbar niederschlägt. Misslich erscheint der weit zurückliegende Erhebungszeitraum (lediglich bis September 2013) für die deskriptiven Statistiken zur netzpolitischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Modern Times? Das Internet vor dem Bundesverfassungsgericht von Benjamin Engst und Christoph Hönnige).

Auch die genealogischen Darstellungen zur Entwicklung von thematischen Subfeldern (Urheberrecht, Datenschutz, Cybersicherheit und Online-Content-Regulierung) lassen eine gewisse Schieflage zugunsten früherer Ereignisse erkennen. Während die Beiträge von Stefan Lindow (Magna Charta, magna controversia. Ideen, Interessen und Konflikte im Urheberrecht) und insbesondere von Philip Schütz und Murat Karaboga (Datenschutz im Internet: Akteure, Regulierungspraktiken und Interessenlagen) jeweils gründlich überarbeitet scheinen, um auch neueste Entwicklungen – etwa die 2018 verbindlich gewordene Datenschutzgrundverordnung – aufzunehmen, ist dies in den letzten beiden Beiträgen des Bandes nicht der Fall.

Der Beitrag von Björn Küllmer und Yana Breindl (Die Regulierung von Online-Inhalten in Deutschland: Zuständigkeit, technische Sperrmöglichkeiten und Regulierungsansätze) fokussiert weitgehend auf die zehn Jahre zurückliegende Debatte über Internetsperren und das Scheitern eines gesetzlich eingerichteten Filters, lässt aber das jüngere Netzwerkdurchsetzungsgesetz und seine Entstehung unerwähnt. Bastian Rohs‘ Kapitel über “Sicherheit im Internet: Cybercrime, Cyberterror und Cyberwar” nimmt neuere Entwicklungen ebenfalls nicht auf. Insbesondere scheint hier auch die Forschungsliteratur aus jüngeren Jahren, einschließlich der darin vorherrschenden kritischeren Distanz zu martialischem Begriffsgebrauch, nicht mehr ausreichend berücksichtigt.

Eine auffällige Unwucht anderer Art erzeugt der einleitende Beitrag von Tobias Jakobi, der ausgehend von einer gründlichen kritischen Durchsicht der Forschung zur Politikfeldentstehung die Theoriediskussion führt und einen eigenen – fraglos gut begründeten – Analyserahmen entwirft. Denn keiner der übrigen Beiträge, mit Ausnahme sporadischer Erwähnungen von Engst und Hönnige sowie von Tobias Jakobi selbst in seinem Artikel zu “E-Government in Deutschland”, nimmt darauf tatsächlich Bezug. Insbesondere gibt es im gesamten Band kein Kapitel, welches die von Jakobi gesteckten Maßstäbe theoretisch begründeter, systematischer Analyse erreichen würde.

Schon der unmittelbar folgende Beitrag von Breindl zur Internet Governance kann als deutliches Beispiel dienen, denn der wohlstrukturierte Artikel lässt keinerlei Bemühungen erkennen, sich zu dem theoretischen Angebot und Analyserahmen oder auch nur dem titelgebenden Begriff der Netzpolitik zu verhalten. Letzteres ist auch aus Sicht des Rezensenten bedauerlich. Derlei Abstriche hinsichtlich der Kohärenz der Beiträge mögen für eine Sammelpublikation keine Seltenheit sein. Im Gegenteil wären die Verpflichtung aller BeiträgerInnen auf eine gemeinsame theoretische Orientierung und einen Analyserahmen eine größere Überraschung. Umso mehr stellt sich die Frage, warum eingangs Erwartungen geweckt werden, die die überwiegend deskriptiven, für den thematischen Einstieg gerade deshalb sehr wertvollen Beiträge nicht erfüllen können.

Der neue Band zur Netzpolitik muss nicht mehr sein wollen, als er ist. Auch dies ist ein Kompliment. Denn er ist schon genug, nämlich ein weitgehend überzeugender, in jedem Fall überfälliger Überblick über ein noch unzureichend beleuchtetes Feld in der deutschen Politikwissenschaft. Deshalb ist er zur Lektüre in Forschung und Lehre, gerade für den Einstieg in dieses weite Feld, sehr zu empfehlen.

Links:

Über das BuchAndreas Busch, Yana Breindl, Tobias Jakobi (Hrsg.): Netzpolitik. Ein einführender Überblick. Wiesbaden [Springer VS] 2019, 359 Seiten, 27,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseAndreas Busch, Yana Breindl, Tobias Jakobi: Netzpolitik. von Schünemann, Wolf J. in rezensionen:kommunikation:medien, 22. Oktober 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21999
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