Christa Dürscheid, Karina Frick: Schreiben digital

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Rezensiert von Annika Frank

Einzelrezension
Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert ist 2016 als dritter Band der Essay-Reihe Einsichten im Kröner Verlag erschienen. Das inklusive Anhang nur 156 Seiten leichte Taschenbuch der Sprachwissenschaftlerinnen Christa Dürscheid und Karina Frick gliedert sich in vier Kapitel: „Neue und alte Kommunikationsformen“, „Merkmale des digitalen Schreibens“, „Die Folgen der Internetkommunikation“ sowie „Neue Praktiken, neue Möglichkeiten“. Sowohl die Ausrichtung der Reihe, beschrieben als „[am] Puls der Zeit mit Büchern, die intelligent analysieren, was die Gesellschaft bewegt“ (Werbeeinlage Kröner Verlag), als auch der Aufbau des Werkes sorgen für eine populärwissenschaftlich orientierte Aufarbeitung eines gesellschaftlich diskutierten Themas – der schriftlichen digitalen Kommunikation. Die Autorinnen, die an der Universität Zürich tätig sind, betonen im Vorwort, dass sie die Einflüsse digitaler Schreibprozesse auf das Deutsche nicht bewerten, sondern auf Basis (aktueller und vorläufiger) linguistischer Forschung darstellen (S. 10) und relativieren können. Damit bilden sie einen Gegensatz zum medial besser zu verkaufenden Horrorszenario eines ‚Sprachverfalls‘.

Im ersten Kapitel nehmen die Autorinnen den Leser mit auf eine kleine Reise durch die Kommunikationsgeschichte, auf der sie alte und neue Arten schriftlicher Alltagskommunikation (S. 14) charakterisieren sowie die Vorteile schriftlicher Kommunikation, z.B. ihre „lautlose Form“ (S. 17), gegenüber der mündlichen als Popularitätsfaktor nennen. Exemplarisch beleuchtet wird die Entwicklungsgeschichte neuer Medien wie Chat, E-Mail und SMS sowie alter Medien wie Telegramm-/Faxkommunikation, Postkarten und Briefe. Dabei weisen die Autorinnen darauf hin, dass die Bezeichnung „neue Medien“ heute nicht mehr wörtlich zu nehmen ist; so wurde die erste E-Mail bereits 1984, die erste SMS 1992 versendet (S. 28f.). Ende der 1990er Jahre war vor allem das Chatten in anonymen Chaträumen angesagt, bei dem der User seine reale Identität hinter einem Nickname verbarg. Das Chatten mit Fremden ist heute dem Austausch in privaten Räumen im WhatsApp-Chat gewichen. Dürscheid und Frick empfehlen allerdings eine begriffliche Differenzierung: So solle der Terminus ‚Chat‘ für quasi-synchrone Kommunikationsformen reserviert sein, bei denen beide Partner gleichzeitig online sind (S. 30). Wer also auf eine WhatsApp-Nachricht erst morgen antwortet, chattet nicht mehr, es sei denn, er erhält direkt eine Antwort. Diese Trennung erscheint fragwürdig.

Dank des Smartphones ist auch die E-Mail heute ein ständiger Begleiter, wobei die Autorinnen die konstante Erreichbarkeit von Berufstätigen im „mobile office“ (S. 32) zurecht kritisch sehen. Dass E-Mails in ihrer sprachlichen Form nicht zu verallgemeinern sind, belegen Dürscheid und Frick unter Bezugnahme auf das in der Linguistik viel zitierte „Koch-Oesterreicher-Modell“ (S. 36). Es zieht zur Einordnung sprachlicher Produkte die dichotome Beziehung von ‚entweder sprechen oder schreiben‘ heran, zusätzlich aber auch die Konzeption des Produkts zwischen ,formell und informell‘: Eine Bewerbungs-E-Mail wird anders verfasst als eine persönliche Nachricht an den Partner.

Im zweiten Kapitel beleuchtet die Publikation Merkmale des digitalen Schreibens, welches insbesondere durch Web 2.0 Teil der Alltagskommunikation wurde. Sie unterscheidet zwischen primär schriftbasierten, bildbasierten und mündlichen Kommunikationsformen. Großen Einfluss auf den Sprachstil haben dabei zwei Faktoren: Einerseits ist wichtig, ob die Kommunikation öffentlich zugänglich ist, andererseits beeinflusst auch das Thema die Sprachverwendung: Handelt es sich um private oder nicht private Inhalte?

Weiter werden stilistische sowie grafische Eigenschaften des digitalen Schreibens dargestellt, wobei die Autorinnen in Anlehnung an Peter Schlobinski (2014) bekräftigen, dass es nicht nur ‚die eine Sprache des Internets‘ gibt, sondern verschiedene Varietäten. Unter den stilistischen Merkmalen werden unter anderem Kürzungen, Anglizismen, Code-Switching und die Orientierung an der gesprochenen Sprache berücksichtigt. Die Verfasserinnen belegen diese Kriterien anschaulich und nachvollziehbar mit Bildern und Beispielen und begründen deren Verwendung funktional hinsichtlich möglicher Handlungskonstellationen. Auch hier greifen Dürscheid und Frick auf das Koch-Oesterreicher-Modell zurück, wobei darüber hinaus die Differenzierung zwischen text- und interaktionsorientiertem Schreiben (Storrer 2013) hilfreich gewesen wäre: Diese Theorie erörtert den Unterschied, etwas zum Zwecke des Dialogs zu schreiben oder ein Schreibprodukt zu erstellen, das über die unmittelbare Situation hinaus Bestand hat.

Positiv hervorzuheben ist, dass die Autorinnen Kritik an der Kritik üben: So brechen sie eine Lanze für syntaktisch-unvollständige Sätze, da „Auslassungen in kommunikativer Hinsicht unproblematisch sind und […] das elliptische Schreiben selbst zu einem Kennzeichen digitaler Kommunikation geworden ist“ (S. 87). Grundtenor des Werkes ist, dass das Schreiben im Internet zwar Besonderheiten aufweist, diese aber in der Regel funktional und auch technisch bedingt sind (S. 98f.): Ein ‚Felher‘ in Form eines Buchstabendrehers wird eher verziehen als ‚ein Feler vong Dofheit her‘.

Der Titel des dritten Kapitels – „Die Folgen der Internetkommunikation“ – lässt sich bei all dem, was man in den Medien über den beanstandeten Sprachverfall liest, kaum neutral interpretieren. Den Autorinnen gelingt aber ein Schwenk: „Wissenschaft und Öffentlichkeit haben gegenüber sprachlichen Veränderungen nicht dieselbe Einstellung“ (S. 109), was u.a. am Begriff der ‚Schreibkompetenz‘ veranschaulicht wird. Klagen Medien darüber, dass kein Jugendlicher mehr vernünftig schreiben könne, indem sie ausschließlich Belege aus dem Internet zitieren, wird verschleiert, dass Schreibkompetenz im wissenschaftlichen Sinn bedeutet, dass der Schreiber auf ‚allen Klaviaturen spielen kann‘ (S. 113ff.): Wer seine WhatsApp-Nachricht mit „Sehr geehrte Damen und Herren“ beginnt, ist genauso inkompetent wie der Schreiber, der dies im Bewerbungsanschreiben mit „Moin!“ ersetzt.

Der Essay schließt mit einem recht kurzen Blick von neun Seiten auf neue Praktiken wie das Trauern im Internet, Dating mithilfe von Apps sowie Onlineshopping. Der bunte thematische Haufen soll veranschaulichen, dass das Internet Einfluss auf viele Bereiche unseres Lebens haben kann. Ein Nutzen lässt sich aus diesem Kapitel hingegen nicht ziehen, da die angesprochenen Themen nur oberflächlich betrachtet werden.

Die leichte und kurzweilige Lektüre schafft es dennoch, den Blick auf die sich verändernde Sprache zu wandeln, da die Autorinnen stilistisch wie inhaltlich eine Balance zwischen Wissenschaft und echtem Leben schaffen. Der Essay richtet sich an eine breite Öffentlichkeit, denkbar ist auch der schulische Einsatz.

Literatur:

  • Schlobinski, Peter: Grundfragen der Sprachwissenschaft. Eine Einführung in die Welt der Sprache(n). Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 2014.
  • Storrer, Angelika: Sprachstil und Sprachvariation in sozialen Netzwerken. In: Frank-Job, Barbara; Alexander Mehler; Tilmann Sutter (Hrsg.): Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke. Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW. Wiesbaden [Springer VS] 2013, S. 331-366.

Links:

Über das BuchChrista Dürscheid, Karina Frick: Schreiben digital. Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert.Stuttgart [Kröner] 2016, 156 Seiten, 14,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseChrista Dürscheid, Karina Frick: Schreiben digital. von Frank, Annika in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Juni 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20179
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