Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.):Alte im Film und auf der Bühne

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Knut Hickethier

Einzelrezension
Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich mit „neuen Altersbildern und Altersrollen“ im Film sowie – am Rande – auch auf der Bühne. Er erscheint in der Reihe Alter(n)kulturen, die von den beiden Herausgeberinnen und anderen Hochschullehrern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf publiziert wird. Er wird von Germanistin Henriette Herwig und Kunstwissenschaftlerin Andrea-Hülsen-Esch eingeleitet, die sich mit der kulturellen Alterswissenschaft beschäftigen, gefolgt von einem Überblicksbeitrag des Medienwissenschaftlers Hans Jürgen Wulff. Daraufhin gliedert er sich in vier Abschnitte: Beiträge zum Thema Altersliebe und Alterssexualität im Film, zur Demenz im Film und zu den Beziehungen zwischen den Generationen sowie, eher als Anhang zu verstehen, zur Demenz auf der Bühne.

In der Einleitung wird gleich die vom Titel des Bandes stimulierte Erwartung unterlaufen, hier ginge es um eine Art Systematik oder Typologie von „Altersbildern“ und „Rollen“ im Film und im Theater: Die Publikation verfolgt den Ansatz, wie mit den Kategorien umgegangen wird statt eine neue Systematik von Typen und Stereotypen zu schaffen. So werden auch die ,neuen‘ Bilder nicht alten Mustern gegenübergesetzt, denn dazu hätte man diese kurz umreißen müssen. Zwar gibt es in einigen Aufsätzen den Verweis auf Miriam Hallers literarische Topoi („Alterslob, Altersspott und Altersklage“, S.122), doch auf das klassische Rollenfach der Bühne, die ,Alte‘, das bis in die Engagementsgestaltung an den Theatern Bedeutung hat, wird ebenso wenig eingegangen wie auf traditionelle Altersrollen im Kinofilm oder in Fernsehserien, die unsere Vorstellung vom Altsein immer noch wesentlich bestimmen. So bleibt letztlich unklar, was mit der Bezeichnung ,neu‘ gemeint ist. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich die meisten Autoren vor allem mit neueren Filmen beschäftigt haben, was nicht unbedingt bedeutet, sie würden neue Altersbilder thematisieren.

Die Basis der Herausgeberinnen, sich den filmischen Darstellungen über eine Genreorientierung zu nähern, bleibt unausgefüllt. Denn ihre Absicht war nicht, ein neues Genre, etwa des Altenfilms, zu kreieren – auch wenn sie das Motiv des Alters und der Alten explizit nur bei den so genannten jungen Alten und Hochaltrigen sehen, obwohl das Alter in allen Filmen eine Rolle spielt; auch Kinder haben ein Alter und junge Liebende ebenso. Der Genrebezug wird deshalb so verstanden, dass die Thematisierung von Alten der ,Generation 60+‘ zu einer „Neucodierung“ (S. 15) aller Genres führen müsse. Diese Codierung bleibt jedoch weitgehend diffus. Auch sollen die Untersuchungen der Filmbilder diese „in die Wissensdiskurse, die Alter(n) als Objekt verhandeln, miteinbeziehen“ (S. 13), also die Filmbilder für die Realität nutzbar machen. Das geschieht jedoch nur im Beitrag von Henriette Herwig über Demenz im Film, in dem sie zunächst das gesellschaftliche Problem mit Demenz darstellt, bevor sie auf deren filmische Thematisierung zu sprechen kommt und über Folgen bestimmter Filmbilder für die Realität nachdenkt.

Sucht man jedoch nicht nach einer Systematik, sondern lässt sich auf die Beiträge ein, so ist bemerkenswert, dass es sich – abgesehen von manchen Beiträgen, die von einem Korpus von vielen Filmen ausgehen – meist um Analysen weniger einzelner Filme handelt. Diese werden ausführlich beschrieben und in ihrer Handlungsführung nacherzählt, so dass der Leser auch eine Anschauung vom Film gewinnt, wenn er ihn nicht gesehen hat. Darin liegt der Gewinn der Lektüre ebenso wie in dem Vorgehen der Autoren, dann doch individuelle Kategorisierungsversuche zu unternehmen, worin Ansätze zu einer vorsichtigen Theorieentwicklung gesehen werden können.

Den Einstieg nach der Einleitung gibt der Kieler Medienwissenschaftler Hans Jürgen Wulff (S. 27-54). Er ist Kenner der filmischen Motivforschung sowie der Thematisierung psychischer Probleme im Film und widmet sich in seinem Beitrag dem Verhältnis von Schauspieler und Rolle. Darin geht er auf die Verkörperung der Rolle durch den Schauspieler („In-seinem-Körper-Sein“) ein, insbesondere, wenn eine Altersdifferenz zwischen Rolle und Darsteller besteht und der Schauspieler deutlich jünger ist als die Figur. Umgekehrt werden im Theater oft Kinderrollen von Erwachsenen gespielt, aber das wird nicht erörtert.

Wulff zeigt, dass es hier Probleme geben kann, weil die Körperlichkeit in Statur und Bewegungen bei aller Maskierung unverkennbar der der Rollenfigur widerspricht. Seine Überlegungen zur Verkörperung des Alters, zur Reflexivität in der Altersthematisierung und zur Rollenbiografie werden an zahlreichen prominenten Filmbeispielen erläutert. Daneben gibt es Überlegungen zu einem typologischen neuen Altersbild im Film, etwa wenn er das Moment der Renitenz im Alter herausarbeitet oder auf das Motiv des rettenden Alten (am Beispiel des Fernsehmehrteilers Der große Bellheim) zu sprechen kommt. Wulff greift auch wichtige rezeptionspsychologische Motive auf, beispielsweise, wenn vom „Mit-Altern“ der Zuschauer mit den Schauspielern die Rede ist. Hier hätte ein Blick auf die Darsteller in den lang laufenden Fernsehserien viel gebracht. Musterbeispiel in der wissenschaftlichen Diskussion ist die inzwischen mehr als dreißig Jahre laufende Lindenstraße, bei denen viele Zuschauer das Altern der Protagonisten miterleben konnten. Wulff konzentriert sich hingegen auf den einzelnen Kino- und Fernsehfilm, nicht auf Serien. Sein Beitrag ist vor allem schauspielertheoretisch von Bedeutung (im Sinne des später mehrfach aufgegriffenen ,doing age‘).

Im Themenkomplex der „Altersliebe und Alterssexualität“ zeigt Anja Hartung anhand weniger Beispiele (vor allem Michael Hanekes Amour und Andreas Dresens Wolke 9), wie die Altersliebe zum Katalysator von Selbstfindung und Neubestimmung der Identität wird (S. 55-72). Dabei unterscheidet sie drei Formen: den Verlust des Partners, der als Trauer und Schmerzerfahrung sowie als Befreiung dient, und das Motiv der Liebe als Auslöser der Selbstverwirklichung. Pamela Gravagne (S. 73-94) und Aagje Swinnen (S. 95-118) tragen weitere Akzente aus Filmanalysen bei, wobei das von Anja Hartung angesprochene Konzept des ,doing age‘ vertieft wird, zu dem auch Lena Eckert und Silke Martin in ihrem gemeinsamen Beitrag (S. 119-138) systematische Überlegungen beisteuern. ,Altersliebe‘ wird als Katalysator neuer Identitätsfindung verstanden.

Der Abschnitt „Demenz“ wird von Henriette Herwig umfassend eröffnet (S. 139-176): Sie geht auf die realen Probleme der Demenz und vor allem der Pflege ein und betrachtet vor diesem Hintergrund, wie in Filmen die real vorhandenen Konflikte dargestellt werden – wobei sie die Filme so versteht, dass sie Verhaltensweisen vorstellen und teilweise auch ,Lösungen‘ anbieten. Die Aufsätze von Robin Curtis (S. 177-192), der sich einem Dokumentarfilm über die Veränderungen der Subjektivität bei Demenzkranken widmet, sowie die Aufarbeitung eines japanischen Films über das Vergessen von Elisabeth Scherer und Christian Tagsold (S. 193-214) ergänzen Herwigs Ausführungen.

Im dritten Abschnitt geht es um die Beziehungen zwischen den Generationen und darum, wie das Altern in den zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt wird. Auch hier versuchen die Autoren, ihre konkreten Beobachtungen in einzelnen Filmen vorsichtig für eine Kategorienbildung nutzbar zu machen. Neben Anita Wohlmanns Analyse zweier Dramen in japanischem Umfeld (S. 215-234) und Thomas Küppers Betrachtung der Tragikomödie About Schmidt, die das Moment der Ambivalenz herauszuarbeiten versucht (S. 281-302), ist vor allem Alina Gierkes und Maike Rettmanns Beitrag zu den Alten-WGs im Film bemerkenswert, die offensichtlich die Darstellung von Altersheimen abgelöst haben (S. 235-262). Dokumentarisch ist der Film über die 90-jährige Dichterin Hilde Domin von Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert (S. 263-280), der heraussticht, weil es hier vor allem um die Interviewtechnik und die Annäherung der jungen Regisseurin an die Protagonistin geht.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit dem Tanztheater von Pina Bausch und ihrer Darstellung des Alters sowie dem Bericht eines Theaterprojekts zur Demenz. Maike Purwins Auseinandersetzung mit Bauschs Inszenierung Kontakthof stützt sich auf Filmaufnahmen, in denen auch die Tänzer zu Wort kommen und über ihren Umgang mit dem Alter in der Inszenierung reflektieren (S. 303-318). Die Körperlichkeit im Spielen und Zeigen ist auch hier das Thema und der Bühnenraum eine Möglichkeit, in neuer Weise zu sich selbst zu finden. Barbara Wachendorffs Bericht über ein von ihr durchgeführtes Theaterprojekt erzählt schließlich von den Veränderungen des Inszenierens durch das Vergessen als zentralem Demenzproblem (S. 319-332). Beide Beiträge können jedoch das Versprechen des Bandes, er behandle ähnlich umfangreich das Theater wie den Film, nicht einlösen.

Bei all der Verschiedenheit seiner Aufsätze kann der Sammelband als ein erster Versuch verstanden werden, das Altsein und das Älterwerden in der „dritten Lebensphase“, wie es an einigen Stellen heißt, in neueren Filmen zu beschreiben und zu kategorisieren. Dabei stellt sich heraus, dass in den Beiträgen die Körperlichkeit in der Darstellung zur gemeinsamen Klammer wird. Hier müsste im Sinne einer Schauspielertheorie jedoch noch gründlicher nachgedacht werden. Ob sich damit schon die Aufgabe einer neuen Rollentypologie erledigt hat und wie eine modifizierte Genresystematik aussehen könnte, bleibt allerdings offen.   

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Über das BuchHenriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.): Alte im Film und auf der Bühne. Neue Altersbilder und Altersrollen in den Darstellenden Künsten. Bielefeld [transcript] 2016, 336 Seiten, 34,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseHenriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch (Hrsg.):Alte im Film und auf der Bühne. von Hickethier, Knut in rezensionen:kommunikation:medien, 10. April 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19989
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