David King: Die Kommissare verschwinden

Einzelrezension
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Rezensiert von Evelyn Runge

Die Kommissare verschwindenEinzelrezension
Die drei Männer in der Bildmitte – selbst in Uniform und Anzug – sind umgeben von einer Menge Uniformierter, einige mit Pistolenhalftern an der rechten Hüfte. Die ihnen am nächsten stehenden fünf Personen sind gesichtslos: Bis auf die Schultern und den Brustbereich sind schwarze Flächen zu sehen. Auf den ersten Blick sieht es aus, als seien den Männern Kapuzen über den Kopf gestülpt worden. Kapuzen, die aus schwarzer Tinte bestehen: “Kein surrealistischer Maler könnte solch eine verstörende Vision schaffen“, schreibt David King (207f.). Der Fotohistoriker und Designer befasst sich seit Jahrzehnten mit politischen Bildern aus der Sowjetunion. Die Auslöschung von Kommissaren aus Fotografien hatte System; oft folgte der Auslöschung aus den Bildern die Ermordung der jeweiligen Porträtierten. Übrig blieb einer: Josef W. Stalin.

Die Kommissare verschwinden. Die Fälschung von Fotografien und Kunstwerken in Stalins Sowjetunion, heißt David Kings Buch, aus dem das beschriebene Foto stammt. The Commissar Vanishes hieß die vielbeachtete englische Erstausgabe 1997, verlegt im selben Jahr in Deutschland unter dem Titel Stalins Retuschen: Foto- und Kunstmanipulationen in der Sowjetunion. In der Ausgabe von 2015 – der deutschen Übersetzung der zweiten englischen Ausgabe – sind 118 neue Bilder enthalten, so der Klappentext.

Im Winter 1970 besuchte King – damals noch Kunstredakteur des Londoner Sunday Times Magazine – erstmals Fotoarchive in Moskau, auf der Suche nach “Bildern früherer Führer der Bolschwiki, von Trotzki im Besonderen“ (13). Die Bibliothekare legten King retuschierte und beschnittene Bilder vor: “Es gab keine einzige Abbildung mit jemandem, der unter Stalin umgebracht worden war.“ (13) King beginnt, russische Fotografien und Kunstwerke zu sammeln.

Chronologisch nach ihrem Entstehungsjahr geordnet, stellt King in Die Kommissare verschwinden den jeweiligen Aufnahmen überarbeitete Versionen bei. Zum Corpus gehören unbekanntere Aufnahmen ebenso so wie weithin bekannte Fälschungen – beispielsweise Lenins Rede 1920 vor dem Moskauer Bolschoi-Theater, mit und ohne Retuschierung von Trotzki und Kamenew (78ff.); die Entfernung von Antipow, Kirow, Schwernik und Komarow aus einer Aufnahme von 1926, sodass nur noch Stalin übrigblieb (126ff.); sowie auch das Foto von Stalin mit einem Kind und einem Blumenstrauß im Arm, hinter denen ein Sekretär entfernt wurde (198f.): Diese Aufnahme diente als Vorlage für Gemälde und eine Skulptur für die Moskauer Metro. Die Eltern des Mädchens wurden später ermordet.

Stalins Bildpolitik der Zerstörung setzte sich ins Private fort: Verschwanden Menschen von offiziellen Bilder, löschten Bürger in ihren privaten Büchern oder Alben die Namen und/oder Porträts dieser aus. Die Gefahr bestand, als sogenannter Konterrevolutionär oder Volksfeind verhaftet zu werden (10). Messer, Schere, Tinte, ein simpler Stift: Die visuelle Vernichtung, die aus den Reproduktionen fast haptisch hervordringt, wurde mit vielerlei Werkzeug herbeigeführt. Werkzeuge, die in den Händen der Retuscheure zuvor die Originalaufnahmen verändert hatten: Mit Airbrush-Technik, Skalpellen und auch der Beschneidung von Negativen stellten sie Personengruppen neu zusammen oder entfernten Gesichter.

Die Bildunterschriften sind detailliert, listen nahezu alle Abgebildeten namentlich auf und stellen Bezüge der einzelnen Personen zueinander her. Befremdlich jedoch wirkt es, wenn einer Person zwei unterschiedliche Todesdaten zugeschrieben werden: Starb Abel Jenukidse am 16. Dezember 1937 (182) – oder bereits am 30. Oktober 1937, wie drei Seiten später angegeben (185)? Die meisten der von Fotos entfernten Funktionäre wurden in der Zeit des Großen Terrors und oft nach den Moskauer Schauprozessen 1936 bis 1938 erschossen, andere starben im Gulag, allein oder mit ihren Verwandten. Die letzte Aufnahme im Bildband stammt von David King selbst: Es zeigt die Totenmaske Stalins (232).

Der Rezipient erfährt viel über die Abgebildeten – kaum aber etwas über die Fotografen und Retuscheure. Vereinzelt sind Namen von Fotografen am Bildrand zu erkennen: Diese hatten ihre Aufnahme signiert. Auch nennt King mitunter die Fotografen oder Agenturen in seinen Bildunterschriften, etwa Sojusfoto (156). Mehr erfährt der Leser über Alexander Rodtschenko, einem der wichtigsten Grafikdesigner und Fotografen in den 1920er und 1930er Jahren: Er hatte das Buch Zehn Jahre Usbekistan gestaltet, das nach 1934 in mehreren Auflagen erschien. Nach Stalins Ermordung vieler usbekischer Parteifunktionäre 1937 musste Rodtschenko sein eigenes Werk zensieren: Über fünf Doppelseiten zeigt King exemplarisch die Auslöschung von Porträts der usbekischen Kommissare und einer Kommissarin (170ff.).

Verborgen bleibt dem Rezipienten auch, welche der Bilder gegebenenfalls von King für den Abdruck beschnitten wurden. Ebenso wäre interessant gewesen zu erfahren, aus welchen Archiven die retuschierten, übermalten oder anderweitig zerstörten Porträts stammen – und aus welchen die unangetasteten Originale. Das Impressum verweist auf die David King Collection. Der Autor selbst erwähnt unter anderem das Staatliche Gulag-Museum, das Fotoarchiv und das Memorial (alle in Moskau), das Kunstmuseum in Charkiw (Ukraine) und das Staatliche Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki. Auch hätte man gerne erfahren, wie King bei seiner Recherche vorgegangen ist, die sicher nicht einfach war. Die Rezensentin Leah Dickermann schrieb 1998 zu Kings Buch: “Long known by Soviet specialists, King’s work stands as an archaeology within the archive of Soviet culture, accomplished in the face of innumerable barriers.” (Dickerman 1998: 755) Auch in seinem Vorwort zur Erstausgabe hält King sich bedeckt über seinen Zugang zu Archiven; er verweist auf die Reiselockerungen in den 1980er Jahren durch Michail Gorbatschow: “[…] large numbers of books, photographs, and other documents, hidden for many years, arrived in the West.” (King 1997)

Trotz kleiner Mängel bleibt Die Kommissare verschwinden eine beeindruckende Sammlung – und eine Mahnung der Vergangenheit an die Gegenwart.

Literatur:

  • Dickerman, Leah: Review. In: The Art Bulletin, Vol. 80, 4, 1998, S. 755-757.
  • King, David: Introduction. Heavy Soviet Losses. In: David King: The Commissar Vanishes. The Falsification of Photographs and Art in Stalin’s Russia. Zitiert nach: The New York Times, 9.11.1997, https://www.nytimes.com/books/first/k/king-commissar.html. Verifiziert am 12.8.2015.

Links:

Über das BuchDavid King: Die Kommissare verschwinden. Die Fälschung von Fotografien und Kunstwerken in Stalins Sowjetunion, dt. Ausgabe der 2., erweiterten und überarbeiteten englischen Ausgabe. Karl Dietz Verlag Berlin [Berlin] 2015, 232 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseDavid King: Die Kommissare verschwinden. von Runge, Evelyn in rezensionen:kommunikation:medien, 24. August 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18419
Veröffentlicht unter Einzelrezension