Ursula Hennigfeld (Hrsg.): Poetiken des Terrors

Einzelrezension
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Rezensiert von Simone Sauer-Kretschmer

Poetiken des TerrorsEinzelrezension
Der von Ursula Hennigfeld im Heidelberger Universitätsverlag Winter herausgegebene Sammelband Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich fußt auf einer im Mai 2013 in Osnabrück stattgefundenen Tagung. In ihrem Vorwort listet die Herausgeberin fünf zentrale Fragen, auf die die zwölf Beiträge des Bandes antworten wollen: Erstens soll es um die “Differenzqualität des Mediums Literatur“ (11) gehen, zweitens um die diskursiven Prozesse der Wissensproduktion um 9/11, drittens stellt sich die Frage nach dem 9/11-Roman als neuer Gattung, viertens sollen die nationalen Unterschiede in den Narrativen untersucht werden und fünftens wird kritisch gefragt, inwiefern sich auch die wissenschaftliche Forschung an der “Konstruktion einer Wende oder eines Zäsur-Denkens“ (ebd.) beteiligt habe.

Diesem anspruchsvollen Fragenkatalog sind vier übergeordnete Themenbereiche gewidmet, zunächst geht es dabei um ‘Historische Terror-Diskurse’. Cornelia Ruhe beleuchtet in ihrem Aufsatz über ‘Die Kontinuität des Krieges. Literatur und Film in der Konfrontation mit Krieg und Terror’ Reaktionen der französischen Literatur auf den 11. September und beschäftigt sich anschließend mit dem Verhältnis von Fiktion und Kriegsführung; konkret mit Gillo Pontecorvos Film La bataille d’Alger (1966), den das Pentagon zur Vorbereitung des Krieges im Irak und in Afghanistan genutzt habe. Eva Erdmann zeigt anschließend in der Re-Lektüre von Albert Camus‘ Les Justes, was die Verbindung von Terrorismus und poetischem Sprechen mit 9/11 zu tun haben kann (‘»Nicht immer reden immer nur Wörter«. Narrationen und Ereignisse der Sprachgewalt und Les Justes (1949) von Albert Camus’), wobei verschiedene Formen von – medial transportierter und künstlerisch aufgebrochener – Sprachgewalt im Mittelpunkt stehen.

Den Abschluss dieser ersten, historisch orientierten Sektion bildet Patrick Kilians ‘Die üblichen Verdächtigen: Terror/Autoren, Postmoderne, Science War. Die ‘usual suspects’ interessieren Kilian aus folgendem Grund: “Ich will dieses Motiv als Reflexionsraum bzw. als Metapher nutzen, um zu zeigen, dass sich die Aufklärungsversuche um die Hintergründe der Anschläge vom 11. September 2001 in der journalistischen Öffentlichkeit schnell in eine solche Fahndung nach den üblichen Verdächtigen verwandelten.“ (53) Das stimmt, doch ist das nicht längst jedem klar? Kilian betont die merkwürdige Vertrautheit des Plots, der hinter den Anschlägen zu stecken scheint. Don DeLillos Konzept der “counter-narratives“, den Gegenerzählungen also, mit denen es auf die Erzählung der Terroristen zu antworten gelte, dient Kilian hier als Ausgangspunkt, um über “terroristische Narrative“ (57) nachzudenken. Dabei werden tatsächlich einige der ‘üblichen Verdächtigen‘ zitiert, allerdings vom Verfasser: neben Karlheinz Stockhausen dürfen auch Jean Baudrillard und Samuel Huntington nicht fehlen. Es verwundert jedoch, dass Kilian bei diesem Thema weder zu Eva Horns Studie Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion noch Manfred Schneiders Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft Stellung bezieht, denn in beiden Büchern gibt es ausgezeichnete Überlegungen zum Verhältnis von 9/11 und Fiktion, die hier nicht neu erfunden werden müssten.

Auch die zweite Abteilung des Bandes enthält drei Aufsätze, die unter dem Obertitel ‘Terror – Trauma – Theatralität’ zusammengebracht wurden. ‘Was der Roman kann, darf und soll. Autopoetologische Verhandlungen der Romanform nach 9/11’, so der Titel des Aufsatzes von Florian Kläger, der sich mit einer britischen Mediendebatte auseinandersetzt, in der nach der “gesellschaftlichen und moralischen Wirkmacht, Verantwortung und Pflicht des Romanciers und seines Mediums nach den Terroranschlägen“ (73) gefragt wurde. Die drei Schriftsteller, die hier im Fokus stehen, sind Martin Amis, Ian McEwan und Salman Rushdie, deren Statements und poetologische Überlegungen Kläger überaus informativ arrangiert, um daraus bedenkenswerte Konsequenzen für die Gegenwart der Romanform herzuleiten.

In Michael C. Franks Beitrag über ‘Terror- und Trauma-Romane. Zwei Perspektiven auf die Welt nach 9/11’ stehen zwei der populärsten Texte zum 11. September im Mittelpunkt: Don DeLillos Falling Man und Ian McEwans Saturday. Franks Herangehensweise an diese bereits vielfach besprochenen Romane überzeugt vollauf, da zunächst eine Begriffsbestimmung der häufig beinahe voraussetzungslos benutzen Termini Trauma und Terror erfolgt. Frank vermag dabei zu zeigen, inwiefern die nach 9/11 allerorten angestellte Trauma-Prognose zu einer inflationär attestierten Trauma-Diagnose wurde und dass literarische Texte an diesem Prozess Anteil haben. Der letzte Beitrag dieser Sektion stammt von György Fogarasi und beschäftigt sich mit den theatralischen Aspekten des Terrorismus. In ‘Offstage Fright: Terrorism and Theatricality’ stehen die philosophisch-historischen Voraussetzungen im Vordergrund. Klassische Ursprungstexte wie die ästhetischen und politischen Schriften Edmund Burkes und Immanuel Kants, von denen Fogarasi ausgeht, um gegenwärtige Erscheinungen von Terrorismus neu zu denken.

Das dritte und auch das vierte Kapitel konzentrieren sich im Anschluss auf nationalliterarische Beispieltexte zum 11. September und (teilweise) auch auf ihren Vergleich. Zunächst werden die deutschsprachigen Romane nach 9/11 untersucht: ‘Vom Scheitern des Dialogs mit dem Täter. Überlegungen zu Christoph Peters‘ Ein Zimmer im Haus des Krieges (2006)’ von Heinrich Kaulen konzentriert sich auf die literarische Figur des Märtyrers, die durch 9/11 eine Renaissance erlebe. Kaulen macht deutlich, inwiefern das historische, aber auch das gegenwärtige “Märtyrerkonzept“ (138) zwischen Anziehungskraft und Ablehnung changieren und welche Verbindung zwischen islamischen und christlichen Märtyrerfiguren besteht, die der Vorstellung ‘sauberer‘ Kriegsführung deutlich sichtbar widersprechen: “Mit den Terroristen, Attentätern und selbsternannten Märtyrern, deren Aktionen die Konfliktlinien asymmetrischer militärischer Auseinandersetzungen wesentlich prägen, sind nun Figuren auf den Plan getreten, die diese semantische Umcodierung offensichtlich unterminieren, indem sie ostentativ an der alten Idee des Opfers im Sinne des “sacrificium“ festhalten und den blutigen Terror auf spektakuläre Weise mitten in die Metropolen tragen, um mittels der so gewonnenen Medienpräsenz die Pläne der Apologeten eines ‘sauberen‘, unblutigen Krieges ohne sichtbare Opfer ein für alle Mal zu durchkreuzen.“ (138f.).

Nach diesem kurzen thematischen Überblick diskutiert Kaulen Christoph Peters‘ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges, dem er eine besondere Stellung unter den deutschsprachigen 9/11-Romanen einräumt, da Peters eine “differenzierende Sicht auf die Motive fundamentalistischer Gewalttäter“ (139) werfen wolle. Doch Kaulens These lautet, das Peters‘ auf das Verstehen des Anderen ausgerichtete literarische Auseinandersetzung mit dem Fremden drastisch scheitert (vgl. 139f.). Kaulen macht dem Roman insbesondere zum Vorwurf, dass dieser von einer politisch “unterkomplexen“ Vorstellung ausgehe und zwar, “dass das Fundament des fanatischen Islamismus tatsächlich auf einer echten religiösen Überzeugung beruht.“ (151). Die jüngsten politischen Entwicklungen um junge deutsche oder auch französische Frauen und Männer, die sich aus freien Stücken dem sogenannten Islamischen Staat anschließen, geben Kaulens Lektüre und seinen kritischen Schlussfolgerungen recht und machen aus diesen Beitrag zum vielleicht spannendsten Aufsatz im Band, der Fragestellungen aufwirft, die weit über die rückblickende Beschäftigung mit 9/11 hinausgehen. Nebenbei sei bemerkt, dass bspw. – denn die feuilletonistischen Beiträge zur Verbindung von Terror und Popkultur sind zahlreich – der Schriftsteller Clemens Setz in DIE ZEIT einen sehr interessanten Artikel über die Erzähltechniken der Enthauptungsvideos des IS formuliert hat, in dem Setz deren Machart mit dem amerikanischen Kino vergleicht.

Carsten Gansels Beitrag (‘Von der Primärerfahrung zur medialen Konstruktion? ‘Soldatisches Opfernarrativ‘, 9/11 und Terrorismusdarstellung in der deutschen (Gegenwarts)Literatur’) fragt nach der Art der Störungen, die Kriegserfahrungen auslösen, stellt die Interpretationsmuster heraus, auf die nach 9/11 zurückgegriffen wurde, diskutiert die Möglichkeiten von Literatur bei der Darstellung des internationalen Terrorismus und präsentiert abschließend eine kurze Tendenz deutschsprachiger Autoren im Umgang mit 9/11. Dabei muss erwähnt werden, dass Gansel davon ausgeht, “dass es im deutschsprachigen Raum keine Primärerfahrungen, kein Geschichtsnarrativ und auch keine kulturelle verfügbare Plotstruktur zum terroristischen Märtyrerkult gibt“ (176) und daraus die Schlussfolgerung zieht, dass es vorrangig um die Suche nach ästhetischen Ausdruckformen gehe oder aber um die mediale Präsentation. Das ist sicher richtig, da 9/11 aber für den Großteil der Welt ebenso wie auch für seine Augenzeugen das Medienereignis ihrer Zeit darstellt, kann aus der ‘nur‘ medial fokussierten Auseinandersetzung mit dem ‘Ereignis‘ keine Thematisierung zweiten Ranges abgeleitet werden, sondern eher eine Meta-Ästhetisierung des sowieso schon durch das Kameraauge vorgeformten Geschehens.

An diese Fragestellung schließt Volker Mergenthalers Beitrag thematisch stimmig an. Dann auch Mergenthaler beschäftigt sich in ‘Warum die Frage »Wie reagieren Schriftsteller auf die Terroranschläge?« auf dem Feld der deutschsprachigen Literatur die falsche Frage ist’ mit Sichtweisen auf das Ereignis. Mergenthaler zielt darin vorrangig auf die vom deutschen Feuilleton wiederholt gestellte Frage, wie die Schriftsteller sich zu 9/11 verhalten hätten und beobachtet die literarischen Reaktionen Ulrich Peltzers, Max Goldts und Else Buschheuers.

Im letzten Überkapitel des Buches steht die arabisch-, französisch- und spanischsprachige Literatur im Mittelpunkt: Elhakam Sukhni gibt eine informative Einführung in die Probleme der arabischen Verlagswelt und die Verarbeitung der 9/11-Anschläge. Sukhni macht einleuchtend deutlich, warum es im Grunde unmöglich ist, von einer arabischen 9/11-Literatur zu sprechen. Anschließend folgt der Beitrag der Herausgeberin Ursula Hennigfeld, die sich mit ‘9/11 und die Folgen. Terrordiskurse in französischsprachigen Romanen algerischer Autoren (Khadra, Sansal, Benaïssa)’ beschäftigt hat. Hennigfeld analysiert drei Texte der genannten Autoren, um schlussendlich ein aufschlussreiches Resümee zu ziehen, das sich mit dem “Bedürfnis nach Ästhetisierung des Schreckens“ (228) befasst. Zuletzt beschreibt Fabian Stratenschulte ‘Die Aufarbeitung des 11-M im spanischen Roman und Comic am Beispiel von El Corrector und 11-M: La Novela Gráfica‘, womit der Fokus auf einen weiteren islamistischen Terroranschlag gelenkt wird, der am 11. März 2004 in Madrid stattgefunden hat.

So überzeugend der Großteil der einzelnen Beiträge in diesem Sammelband auch sein mag, so fragil erscheint insbesondere im ersten und letzten Überkapitel die Zugehörigkeit zu den jeweils gewählten Oberbegriffen. Die Vielseitigkeit, die Hennigfelds Zusammenstellung durchzieht, droht dabei manchmal in Beliebigkeit umzukippen, doch die meisten Beiträge sind auch für sich genommen interessant genug. Der im Vorwort aufgemachte Fragenkatalog wurde selbstverständlich nicht erschöpfend beantwortet, aber dazu wäre wohl kaum ein Sammelband in der Lage. Poetiken des Terrors kann somit als gelungener Nachtrag zu einer Vielzahl von Diskursen um 9/11 gelten, woran besonders die Beiträge von Michael C. Frank und Heinrich Kaulen großen Anteil haben.

Links:

Über das BuchUrsula Hennigfeld (Hrsg.): Poetiken des Terrors. Narrative des 11. September 2001 im interkulturellen Vergleich. Heidelberg [Universitätsverlag Winter] 2014, 245 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseUrsula Hennigfeld (Hrsg.): Poetiken des Terrors. in rezensionen:kommunikation:medien, 17. August 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18290
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