Jan Distelmeyer: Kritik der Digitalität

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Digitalität definiert der Potsdamer Medienwissenschaftler in diesem knappen Kompendium zunächst nicht mit einer konzisen, umfassenden Begriffserklärung, sondern (gleich im ersten Satz)  als “Zumutung” (1), und zwar sogar in vierfacher Hinsicht: erstens weil “der Begriff und die Gleichzeitigkeit der Präsenz und Verborgenheit von Bedingungen, Apparaten und Prozessen […] programmatische Wechselwirkungen” markieren; zweitens “mythische und materielle Faktoren” zusammenwirken; drittens weil “unterschiedliche theoretische Ansätze zur Digitalität” beschritten werden und viertens weil inzwischen “digital” und “vernetzt” gleichgesetzt werden. (2) Damit begründet er implizit den Titel des Buches, wenngleich er dann doch eine Definition nachschiebt, die er aus diversen Begriffsklärungen filtert: Der Begriff ziele “auf Grundsätzliches” insoweit ab, als er “die Gesamtheit und Eigenart der Bedingungen und Folgen elektronischer Digitalcomputer in all ihren Formen” bezeichnet (ebd.).

Im ersten, dem umfangreichsten Kapitel expliziert er diese “Zumutungen” mit einem beeindruckenden Wissen und vielen (Quellen)Verweisen: Technische Gegebenheiten, historische Entwicklungen, theoretische Ansätze und reale, strukturelle wie okkasionelle Zusammenhänge werden aufeinander bezogen und analysiert: Ob das Internet der Dinge, die “Maschinisierung der Kopfarbeit”, künstliche Intelligenz, machine learning, smart cities, big data u.v.a.m. – alles wird kompetent erläutert, eingeordnet und in seiner Komplexität ausgeleuchtet. Dennoch (oder gerade deswegen) bleibt es beim grundsätzlichen Unbehagen, weshalb viele Mythen über die Digitalisierung kursieren und im alltäglichen Umgang verfangen. Das mache Digitalität/Digitalisierung so mysteriös, weil sie “mythisch und materiell zugleich” ist (18), aber auch weil diverse Disziplinen sie zu einer “außerordentlich uneinheitlichen Größe” deklarieren und sie mit einer “unbestimmten Bestimmung” (19) verklären. Vorstellungen von Flexibilität und Immaterialität treffen auf den sogenannten “material turn”, der die materiellen Bedingungen in Blick nimmt: “Kabel, Serverparks, Infrastrukturen, Körper und Maschinen, skandalöse Arbeitsverhältnisse beim Abbau, Verwerten und Recycling der nötigen Rohstoffe, Computerschrott und […] Energieverbrauch der Computernutzung” (25) verkörpern die materiellen Dimensionen der Digitalität. Da macht es kaum mehr Sinn, allein von ihrer Immaterialität zu schwärmen.

Womöglich lassen sich Begriffsklärung und Diskurs weitertreiben, wenn ein theoretisch abstrakteres Niveau gewählt wird: Distelmeyer rekurriert auf F. Stalder “Kultur der Digitalität” (2016), der allgemeine Veränderungen in industriellen Gesellschaften anvisiert. Aber auch Dimensionen der Vernetzung sowie die Diskussionen um den digitalen Kapitalismus (z.B. P. Staab 2019)�  werden einbezogen. Viele setzen “digital” und “vernetzt” längst gleich, andere betonen Metamorphosen des Kapitalismus, wie Distelmeyer an der Digitalisierung der Filmindustrie konkretisiert. Letztlich gilt es, “Kritik” zu rechtfertigen: einmal indem der Autor deren Entwicklung, von der Kybernetik N. Wieners (1950)�  bis zu einem Artikel von 2018 zum Thema “Media, communication and the struggle for social progress” (Couldry et. al. 2018) , den 17 Autor*innen fast von allen Kontinenten gemeinsam verfasst haben, retrospektiv aufarbeitet; zum anderen indem er den Kern (medien)wissenschaftlicher Theorie herausarbeitet, nämlich sich um “Verfahren des Vermittelns” (52) zu kümmern.

Im nächsten Kapitel macht Distelemeyer seine Kritik an der aktuellen Computerisierung etwas dezisionistisch an den Begriffen Interface und Leiten fest, da sie den “besonderen konzeptionellen Vorteil” bieten, zusammengedacht, der “drängenden Komplexität dieser Gegenwart eine eigene Vielschichtigkeit und Dringlichkeit des Fragens” entgegenzusetzen (52).�  Interfaces stiften Verbindungen, bilden und erlauben Übergänge und Vermittlungen (ähnlich wie Medien), konstatiert der Autor und geht dann ins (informations)technisch und historisch Eingemachte. ‘Leiten’ ist eng damit verbunden, da es die “Materialität und Prozessualität der unterschiedlichen Interface-Ebenen der Computer(isierung)” (60) verknüpft. Ihre Verkoppelung werfe letztlich Fragen der (All)Macht des Computers auf, denn sie sei weiterhin in seiner Programmierbarkeit und damit in der tendenziellen Universalität der Berechenbarkeit begründet, wechselt er erneut in die soziologische Perspektive. Das Interface Mensch-Maschine oder die Interaktion der Menschen mit den Computern entwickle sich insgesamt zur prekären Falle der Digitalisierung. Daher, so Distelmeyers analytische Folgerung, müsse Kritik der Digitalität bei der “Interface-Analyse” (88) beginnen.

Mit “Programm und Alltag” ist das dritte und letzte Kapitel überschrieben: An Beispielen von Interface-Inszenierungen, graphischen Designs für Spiele und Apps, Sensing-Verfahren und künstlichen neuronalen Netzen werden User-Interface, Usability, aber auch die wachsende Komplexität und Geschlossenheit der Systeme erläutert und illustriert, die dazu führen, dass sie der einzelne User/die einzelne Userin zunehmend als quasi omnipotente ‘black boxes’ erfährt, die er/sie gerade noch meist mehr schlecht als recht bedienen kann. “Es ist ein programmgesteuertes, protokolllogisches Netzwerk aus Computern, deren vorgeschriebene Eigendynamik mich entlastet, mir zu Diensten ist, meine Daten jederzeit erfasst und in einem permanenten Transfer- und Auswertungsprozess hält.” (119). Letztlich “erkenne [nicht ich] diesen Computer als meinen (an), der als Personal Computer meine Daten sichert, sondern der Computer des Netzwerkzusammenhangs erkennt mich an, damit er mir Zugang zu diesem Zusammenhang, dem neuen Zentrum, gewährt” (120). Daraus folgt die praktische, womöglich auch ernüchternde Konsequenz, nämlich “Misstrauen und Entscheiden”: Die “‘Herausforderung, vor der das Design der nächsten Gesellschaft steht’, bestehe darin, die ‘immer unsichtbarer’ werdenden ‘Prozesse der Verknüpfung heterogener Abläufe im Medium algorithmischer Konnektivität’ sichtbar zu machen ‘und für Eingriffe verfügbar zu halten’, zitiert Distelmeyer D. Becker (2018: 259). Doch sicherlich haben solche Forderungen technische wie interessengeleitete, wirtschaftliche Grenzen. Der gemeine User/die gemeine Userin dürfte kaum “zu verborgenen Interface-Ebenen und Leitungsprozessen”, “zu gehüteten Programmen und Algorithmen führender Konzerne und Regierungstechniken, zu uneinsehbaren Rechenschritten eines KI- und ADM-Systems oder zum Datentransfer der Plattformen” (123) vordringen können. So bleibt auch der hier empfohlenen “Interface-Analyse” nur die hoffnungserfüllte Piecemeal-Technik, um immer wieder “die politische Dimension der Computerisierung” (124) deutlich zu machen.

Das ist wenig und letztlich ein bescheidener Anspruch, aber gewiss realistisch. Selten ist auf so knappem Raum eine so dichte, komplexe Analyse der anhaltenden Digitalisierung mit vielen Beispielen und Verweisungen, mit dem Aufzeigen von technischen, digitalen, informationswissenschaftlichen und soziologischen Bedingungen und Folgen vorgebracht worden als in diesem kompakten Kompendium.

Literatur:

  • Baecker, Dirk: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig [Merve] 2018
  • Couldry, Nick (2018): Media, communication and the struggle for social progress. In: Global Media and Communication, 14 (2), 173-191
  • Staab, Philipp: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Berlin [Suhrkamp] 2019
  • Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin [Suhrkamp] 2016
  • Wiener, Norbert: The Human Use of Human Beings: Cybernetics and Society. London [Free Asssociation] 1950; 1989

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