Karl Nikolaus Renner, Tanjev Schultz, Jürgen Wilke (Hrsg.): Journalismus zwischen Autonomie und Nutzwert

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Rezensiert von Sebastian Köhler

Einzelrezension
Die beiden Leitbegriffe “Autonomie“ und “Nutzwert“, welche den Sammelband umklammern sollen, haben seit einiger Zeit ganz sicher “eine besondere Aktualität“ erhalten (13). Den Herausgebern ist bewusst, dass es nicht mehr nur um die Zukunft des Journalismus in digitalisierten Verhältnissen geht, sondern spätestens seit dem Jahreswechsel 2015/2016 mehr und mehr grundsätzlich um dessen Legitimation in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund entstand der Band als Festschrift für den Publizisten Volker Wolff, der von 1995 bis 2014 am Journalistischen Seminar des Institutes für Publizistik der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz die Professur für Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus innehatte.

Wie Wolff nach Ansicht der Herausgeber auch, versucht die Aufsatzsammlung Brückenschläge zwischen Praxis und Wissenschaft (vgl. 14). Daher enthält die Festschrift neben wissenschaftlichen Fachaufsätzen auch Essays und Erfahrungsberichte von Journalisten und Öffentlichkeitsarbeitern, die Wolff besonders verbunden sind.

Der erste Teil konzentriert sich auf geschichtliche und übergreifende Perspektiven (21-184), der zweite Teil setzt sich mit aktuellen Herausforderungen des Journalismus auseinander (185-356). Der dritte Part ist dem Wirtschafts- und Finanzjournalisten Volker Wolff gewidmet (357-482), und last but not least der vierte Teil ihm als Hochschullehrer (483-580). Der Band versammelt so bewusst recht unterschiedliche Positionen, auch mit “ihren partiellen Widersprüchen“ (17), als fortgesetztes “Selbstgespräch, welches die Zeit über sich selber führt“, wie es ja schon Mitte des 19 Jahrhunderts der liberale Publizist Robert Eduard Prutz für den aufkommenden modernen Journalismus beschrieben hatte.

Angesichts aktueller Entwicklungen, die Medienfreiheit in demokratisch verfassten Gesellschaften von zumindest zwei Seiten unter Druck erscheinen lassen (Medienkonzerne wie Facebook und Twitter löschen weitgehend intransparent mutmaßliche Fake-News-Accounts, die Staatsmacht in Sachsen vom Ministerpräsidenten bis hin zum LKA-Mitarbeiter hindert Journalisten an der Arbeit), ist der Beitrag “Was ist (uns) Pressefreiheit noch wert?“ von Christina Holtz-Bacha besonders lesenswert (79ff.). Holtz-Bacha rekonstruiert erklärungskräftig zwei semi-aktuelle Phänomene in diesem Kontext: den Fall “Cicero“ aus dem Jahr 2005 und den Fall “Netzpolitik.org“ aus dem Jahre 2015. In beiden Fällen wurde die Medienfreiheit in Deutschland politsch-juristisch eingeschränkt (wirtschaftlich-strukturelle Einschränkung von Medienfreiheit bleibt auch hier leider unterbelichtet). Die Autorin hält fest, dass entsprechende wiederkehrende Auseinandersetzungen immer wieder auch vor höchsten Gerichten ausgetragen werden. Ihr zeigt sich, dass Medienfreiheit nicht selbstverständlich sei, “sondern der ständigen Bestätigung“ (93) bedürfe. Weder im Fall “Cicero“ noch im Fall “Netzpolitik.org“ sei jemand pro Medienfreiheit auf die Straße gegangen. Holtz-Bacha problematisiert zu Recht, dass mittlerweile “Pressefreiheit“ prekärer als in früheren Jahren erscheint.

Auch der Beitrag “Nichts ist sicher“ (99ff.) von Tanjev Schultz erscheint mir sehr relevant angesichts von “Herausforderungen in der Berichterstattung über Terrorismus“. Schultz geht wie viele andere Journalistik-Experten davon aus, dass es keine “allgemein anerkannte Definition von Terrorismus“ (100) gebe. Dennoch verwendet er den Terminus, der ja ein stark wertender ist, auf der Objektebene und nicht auf der Metaebene (also nicht als Zitat mit Verweis auf den Sprachgebrauch von entsprechenden Quellen). Das mag verwundern, wird es doch der Komplexität der Anschlags-Problematiken und der entsprechenden Berichterstattungen kaum gerecht. Um es polemisch zu verdeutlichen: “Terror“ und “Terrorismus“ betreiben “natürlich“ immer “die Anderen“ (die Bösen, die Außenstehenden etc.).

Leider geht es Schultz anscheinend gar nicht um diese Ebene von “Terror“. Er setzt diese Dichotomie implizit voraus und diskutiert vielmehr, inwieweit von einer “Symbiose“ von Journalisten und Anschlags-Tätern ausgegangen werden kann. Der Autor weist solche Modellierung zurück und notiert, stattdessen sei eine Asymmetrie maßgeblich: “Terroristen mögen auf Medien angewiesen sein, aber umgekehrt trifft dies nicht zu. Journalisten brauchen keine Terroristen. Die Massenmedien brauchen keine Terroranschläge, um ihre Funktion zu erfüllen“ (101). Interessant, dass sich hier angesichts solch normativer Formulierungen die vorausgesetzte implizite Dichotomie (“wir“ gegen “die Terroristen“) explizit rekonstruieren lässt. Und man damit doch relativ schnell an Grenzen der Erklärungskraft dieser Modellierung stößt. Schultz jedenfalls tut das Modell “Symbiose“ als bloße “Redeweise“ ab (102), was mich kaum überzeugt.

Schultz schreibt, er wolle zudem mehr Beachtung für die ebenfalls heiklen Beziehungen zwischen Medien und Sicherheitsbehörden. Auch in der Kommunikation mit Behördenvertretern sieht er immerhin ein strukturelles Problem (vgl. 104). Allerdings scheint er von Äquidistanz wenig zu halten – zwar sei Leichtgläubigkeit gegenüber Behördenvertretern fehl am Platze, aber Misstrauen führe zu einer anderen Gefahr: “dem Erodieren des in der Gesellschaft notwendigen Grundvertrauens in zentrale Institutionen“ (104). Von welcher Gesellschaft schreibt er hier? Von allen? Von allen gegenwärtigen? Warum sollte nicht selbst (oder gerade!) in Gesellschaften, deren Politikfeld demokratisch verfasst ist, Skepsis und Einmischung sinnvoll sein statt eines ziemlich konservativ klingenden “notwendigen Grundvertrauens“ (s.o.)? Der Autor erweist sich hier meines Erachtens zu unreflektiert als ein Ensemble jener Verhältnisse, die ihm vertraut zu sein scheinen.

Für die journalistische Praxis schlägt Schultz “sieben wichtige Punkte“ im Kontext von Anschlags-Berichterstattung vor (vgl. 110ff.), die (mehr als bisher) auch in Studium und Ausbildung einfließen sollten:

1.) Verzicht auf Fotos der Täter und auf das Nennen ihrer Namen
2.) qualitative und quantitative Mäßigung der Berichterstattung
3.) besondere Vorsicht bei Live-Berichterstattung
4.) Transparenz herstellen für die eigene Arbeit samt Ungewissheiten
5.) Einordnung in Kontexte und Hintergründe, realistische Gefahreneinschätzungen
6.) Kritische Distanz zu Politik und Sicherheitsbehörden
7.) Konstruktive Rolle übernehmen – nicht nur Probleme, sondern auch mögliche Lösungen vermitteln

Ein dritter Beitrag, den ich besonders lesenswert finde, ist jener von Kerstin Liesem: “Der Verdacht“ (119ff.). Der Autorin geht es um entsprechende Drahtseilakte zwischen Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Liesem skizziert überzeugend, warum und inwiefern Journalisten bei der Berichterstattung über Verdachtsfälle besondere Verantwortung tragen. Journalisten sollten nicht abwarten, bis sich ein Verdacht erhärtet habe. Im Gegenteil – sie könnten und sollten Vorgänge aktiv aufgreifen, auch in einem Stadium, in dem lediglich ein Verdacht (oder mehrere Verdachtsmomente in verschiedene Richtungen) bestünden (vgl. 128). Allerdings weist Liesem zurecht immer wieder auf die journalistische Sorgfaltspflicht hin.

Zwar hat sich die Konkurrenz innerhalb der Medienlandschaft verschärft, und darüber hinaus – so ist mittlerweile hinzuzufügen – auch die Konkurrenz der Journalisten einerseits gegenüber der Staatsmacht und andererseits gegenüber bestimmten Gruppen/Schichten der Bevölkerung. Oder treffender: Sie wurde und wird von Menschen verschärft. Und dennoch ist die journalistische Sorgfaltspflicht wichtig, ja, sie wird noch wichtiger, um Vertrauen dem Journalismus gegenüber (zurück-) zu gewinnen. Der Autorin gelingt ein überzeugendes Plädoyer für diese spezielle Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem im besonderen Fall: Hinter jedem Verdachtsfall steht – nicht nur laut Liesem – zumindest EIN Mensch. Eine Person, die im schlimmsten Fall eines falschen Verdachtes vor den Trümmern ihrer Existenz stehe. Damit professionell umzugehen, ist der Autorin zufolge ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Verantwortung von Journalisten.

Diese Beispiele sollen belegen, dass der Band in vieler Hinsicht, für Praktiker und Theoretiker, Anregendes enthält und somit als gelungene Mischung sowohl für die Bandbreite als auch für die Tiefenaspekte von journalistischen und Journalistik-Problemen gelten kann.

Links:

Über das BuchKarl Nikolaus Renner, Tanjev Schultz, Jürgen Wilke (Hrsg.): Journalismus zwischen Autonomie und Nutzwert. Köln [Herbert von Halem Verlag], 2017, 590 Seiten.Empfohlene ZitierweiseKarl Nikolaus Renner, Tanjev Schultz, Jürgen Wilke (Hrsg.): Journalismus zwischen Autonomie und Nutzwert. von Köhler, Sebastian in rezensionen:kommunikation:medien, 21. September 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21423
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