Katja Müller-Helle: Zeitspeicher der Fotografie

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Rezensiert von Ulrich Hägele

Einzelrezension
Die Fotografie sucht seit ihren Anfängen nach dem realen Bild. Berühmt sind William Henry Fox Talbots Fotogramme von Farnen, Gräsern oder textilen Dingen – die fragilen Kompositionen verzücken auch 180 Jahre nach ihrer Entstehung. Detailtreue setzte ein großes Negativformat voraus. Ein Pionier auf diesem Gebiet war Johann August Lorent. Auf seinen Reisen in den Orient benutzte er in den 1850er Jahren Kameras mit 60 mal 80 Zentimeter großen Glasplatten – allein der Transport dieser Apparaturen muss ein immenser Kraftakt gewesen sein. Die Kameras besaßen keinen Verschluss und die Kollodiumplatten waren lichttechnisch träge, aber die feingezeichneten Architekturaufnahmen sind in ihrer Ästhetik bis heute unübertroffen. Einen mächtigen Sprung in Sachen Momentfotografie gelang Ottomar Anschütz 1888 mit seinem Schlitzverschluss. Fortan waren serielle Bilder Standard und Bilderfolgen im Sekundentakt kein Problem mehr – die fotografische Zukunft nahm ihren Lauf.

Die Kunsthistorikerin Katja Müller-Helle konzentriert sich in ihrem Band Zeitspeicher der Fotografie. Zukunftsbilder, 1860 – 1913 auf einen weiteren, überaus futuristischen fotografischen Zugang: den der stillgestellten Zeit – des Speicherns visueller Aspekte, “als ein Modell von Zukunftswissen […], welches – im Gegensatz zu anderen Fortschrittsmaschinen des 19. Jahrhunderts […] – bis ins 20. Jahrhundert hinein und auch noch im 21. Jahrhundert hartnäckig als Projektionsfläche einer offenen, gestaltbaren Zukunft dient“ (12). Sie folgt einer Idee des französischen Soziologen Michel Foucault, forschungsleitend ist für sie der dem Lichtbild inhärente “Konnex von Fotografie und Zukunftswissen“ – insofern, als die Fotografie bis heute ihren Zauber für sich bewahren konnte: ein Speicher der Erinnerung, des vermeintlich Realen und der Momente aus ferner Zeit, für eine “offene Zukunft“ (24). Die Autorin sieht Fotografie als eine Art Zeugin der Vergangenheit. Parallel sei “ihre Speicherfähigkeit als Potential einer Lesbarkeit in der Zukunft [zu] verstehen” (28). In ihrer “medienarchäologischen Perspektive“ (45) beruft sie sich auf Sigfried Giedion und dessen “Zauberspiegel der Geschichte“, wonach insbesondere die Dingwelt den Blick in die Vergangenheit und damit das Verständnis für die Zukunft repräsentiere (48). Schließlich folgt Katja Müller-Helle den Beobachtungen Siegfried Kracauers, wonach ein historisches Lichtbild immer auch ein Stück Zeitgeist repräsentiere – “eine Doppelnatur […]: die Transformation der Realität bei gleichzeitiger Wahrung einer realistischen Tendenz“ (35).

Katja Müller-Helle umkreist ihr Thema in drei Schritten, anhand der 360-Grad-Panoramen des Fotopioniers Auguste Chevallier (“Bilder vermessen“), der Ideen des Astrologen Camille Flammarion (“Welten erzeugen“) und der surreal verwischten Momentaufnahmen von Anton Giulio Bragaglia (“Bewegungsunschärfe“).

Auguste Chevalliers “Planchette Photographique” entstand in einem äußerst komplizierten optischen Verfahren, musste “mit einer technischen Anleitung zum Sehen verbunden werden, damit ihr Realitätseffekt überhaupt erkennbar wurde“ (61). Mit dem Apparat konnte man über einen Spiegel auf ein horizontal liegendes Glasplattennegativ 360-Grad-Bilder anfertigen. Dabei drehte sich die Kamera um ihre Achse. Die kreisrunden Bilder waren perspektivisch etwas verzerrt und erstreckten sich um eine ebenfalls runde schwarze Fläche in der Mitte. Weitere Kennzeichen: Die unteren Partien der Fotografie standen auf dem Kopf, das dunkle Feld in der Mitte blieb unbelichtet und ein kleiner weißer Fleck im Zentrum markierte die Kameraachse. Die fotografischen Abzüge hatten Ähnlichkeit mit einem Auge. “Um das gesamte Bildfeld zu erfassen und die räumliche Orientierung im Bild konstant zu halten, müsste das Bild in die Hände genommen und sukzessive gedreht werden.“ (66) Ursprünglich sollte Chevalliers Erfindung der militärischen Aufklärung dienen und war der letztlich “verunglückte Versuch, ein präzises fotogrammetrisches Bild in Bewegung herzustellen“ (62) und “eine Vorform einer zu optimierenden Technik“ (61). Umgekehrt habe die Planchette Photographique bei all ihren Defiziten die Phantasie der Zeitgenossen beflügelt, “dass ihre Anwendbarkeit in der Zukunft garantiert schien“ (95).

Der Astronom und Erfolgsautor Camille Flammarion (1842-1925) hatte die Vorstellung, Fotografie entfalte sich räumlich und zeitlich – “eine Navigation in der Geschichte“ (114): Im Hier und Jetzt gemachte Fotografien sollten Rezipienten in der Zukunft auswerten. “Damit ist die Fotografie in den 1880er Jahren […] stillschweigend zum Modell geworden, dessen Zeitspeicherung andere Zusammenhänge erklärbar machte.“ (115) Die neue Form der Wahrnehmung durch technische Transformation hatte bei Chevallier der Kamera gegolten. Für Flammarion kamen dafür das optische Gerät – Mikroskop, Teleskop und “Chrono-Teleskop“ (133) im Verbund mit den Möglichkeiten des Transports mit Ballon und Brieftaube in Frage. Letztere Methode wurde 1870 bei der Belagerung von Paris erprobt, indem man die mit Depeschen belichteten Mikrofotografien ausflog und Kollodiumhäutchen mit der darauf kopierten, extrem verkleinerten Antwort im Gefieder von Brieftauben in die Hauptstadt zurückschickte. Dort wiederum mussten die Beamten des Geheimdienstes die winzigen Bilder wieder sichtbar machen, zum Beispiel mittels Projektion, wie wir es von analogen Diapositiven kennen. Fotografie diente hier allein der möglichst großen Datenspeicherung zur Kommunikation im medialen Verbund von optischem Gerät, chemischem Prozess und Transport mit Luftpost.

Flammarion dachte in größeren Dimensionen. Er hatte spirituelle Neigungen, fabulierte über außerirdisches Leben, glaubte an Kanäle auf dem Mars und wollte mit einer Maschine auf Zeitreise gehen. Die Überbrückung von Zeit und Raum sollte auf einem interstellaren Lichtstrahl geschehen, gemäß seiner “Vorstellung des Lichts als Boten, der Fotografien transportiert“ (123). Die von ihm angenommene zeitliche Differenz zwischen Aufnahme und dem weit zurückliegenden realem Ereignis in den Gestirnen sollte das erwähnte “Chrono-Teleskop“ kompensieren: “Das Chrono-Teleskop befähigt […], durch die Zeit zu reisen und geschichtliche Orte aufzusuchen, an denen [man] auf Bilder, auf Fotografien trifft.“ Durch die “Beobachtung weit entfernter Zeiten“ werde, so Flammarions Annahme, Vergangenheit wieder lebendig. Für die Dekodierung dieser Fotografien hätten die Protagonisten freilich “ein übernatürliches Sehen erlernen“ (133) müssen. Flammarions Ideen stießen auf ein breites Interesse, seine Bücher verkauften sich international – der Mann war seiner Zeit weit voraus. Katja Müller-Helle kommt zu dem Schluss: “In der literarischen Fiktion Flammarions diente die Fotografie als mediale Grundlage utopischen Denkens, in dem die Scheidewand zwischen Fakt und Fiktion ins Wanken geriet.“ (115 f.)

Abschließend analysiert die Verfasserin die fotodynamischen Experimente um den italienischen Futuristen Anton Giulio Bragaglia (1890-1960), der ausgehend vom enormen Modernisierungsschub in Wissenschaft, Technik und Kunst um 1900 nicht mehr so sehr an einer möglichst real erscheinenden Momentfotografie interessiert war, sondern versuchte, Bewegungsabläufe einzufangen – in Abgrenzung zur Chronofotografie eines Eadweard Muybridge. Der sich nach vorne beugende Mann etwa wirkt bei Bragaglia, als sei er mit einem Schwamm verwischt, was freilich kein größeres Problem darstellte: “Die Unschärfe des Bildes war keine bildtechnische Störung mehr, sondern sie wurde zur ästhetischen Entscheidung aufgewertet.“ (166) Die Fotodynamiken wurden zu einer neuen Form von Kunst, sie “sollten die Statik des Einzelbildes aufbrechen und im Übergang zur Bewegung in Spannung halten“ (174). Ihre neue Kunst verbreiteten die Futuristen mit dem damals neuesten Medium der Kommunikation – der seit 1904 weltweit normierten Bildpostkarte: Sie “etablierte eine Logik des Transports von Bildern, die schon bei Flammarion in der Imagination über die Brieftaubenfotografie erdacht wurde.“ (172)

Chevallier, Flammarion und Bragaglia probierten, erdachten oder schufen visuelle Modelle, die ihrer Zeit weit voraus waren. Die Faszination an diesen Pionieren einer fernen Zukunft ist ungebrochen. Auch im 21. Jahrhundert können wir nicht auf Lichtstrahlen reisend Marstäler und ferne Galaxien erkunden oder die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar werden lassen. Katja Müller-Helle beschreibt und analysiert die Erfindungen, Ideen und Kunstformen ihrer Protagonisten unter einem neuen Blickwinkel. Sie verlässt rein kunstwissenschaftliche Wege und begibt sich auf eine interdisziplinäre Spurensuche, für die sie bislang nicht oder kaum bekannte Quellen insbesondere der italienischen Futuristen ausgewertet hat – die Texte sind in einer übersetzten Fassung im umfangreichen Anhang dokumentiert. Ihren kunsthistorischen Hintergrund erweitert die Autorin mit methodologischen und theoretischen Modellen aus Soziologie, Philosophie und Sozialwissenschaft. Obwohl sie Aby Warburg nicht namentlich erwähnt, bewegt sich Katja Müller-Helle auf dessen Pfaden, umso mehr, als Warburgs Pathosformeln insbesondere in Bragaglias Fotodynamiken auszumachen sind. Allerdings waren Wischbilder wie auch andere kreative Fototechniken international bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts aus der umfangreichen Ratgeberliteratur für Fotoamateure bekannt (vgl. Schnauss 1890). – Vielleicht hatte sich Bragaglia ja davon inspirieren lassen!

Zeitspeicher der Fotografie ist stilistisch anspruchsvoll, aber verständlich geschrieben. Der Band liest sich mit großem Gewinn – das in visuell-geschichtlicher Hinsicht so facettenreiche 19. Jahrhundert ist hiermit also um ein weiteres wichtiges Kapitel ergänzt. Für die Tiefe der Argumentation bleibt die Zusammenfassung erstaunlich kurz. Wünschenswert gewesen wäre noch ein Ausblick in die heutige Zeit, was wir als Zeitzeugen der damaligen Zukunft mit den Modellen von Chevallier, Flammarion und Bragaglia anfangen können. Oder anders gefragt: Gibt es heute ähnliche Bestrebungen, sich mit utopischen Bildern zu beschäftigen – oder sind wir etwa in der Zukunft angekommen?

Literatur:

  • Hermann Schnauss: Photographischer Zeitvertreib. Eine Zusammenstellung einfacher, leicht ausführbarer Beschäftigungen und Versuche mit Hilfe der Camera [1890]. (Liesegang) Leipzig 1903 (7. Auflage).

Links:

Über das BuchKatja Müller-Helle: Zeitspeicher der Fotografie. Zukunftsbilder, 1860-1913. Paderborn [Wilhelm Fink] 2017, 295 Seiten, 39,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseKatja Müller-Helle: Zeitspeicher der Fotografie. von Hägele, Ulrich in rezensionen:kommunikation:medien, 9. Februar 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20971
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