Moritz Riesewieck: Digitale Drecksarbeit

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Rezensiert von Evelyn Runge

Einzelrezension
Immer wieder machen Verbrechen Schlagzeilen, die in sozialen Netzwerken veröffentlicht werden, wie Mord, Vergewaltigung, Folter – live oder im Nachhinein, als Fotografie oder Film. Wenig beachtet wird bisher die Frage, wie viele solcher Bilder die User nicht sehen – und warum. Die kurze Antwort: Weil es Menschen gibt, die für soziale Netzwerke gewalttätige Bilder händisch filtern.

Die lange Antwort ist komplizierter und führt vom Silicon Valley direkt auf eine ehemalige US-Kolonie, die Philippinen. Das Sachbuch von Moritz Riesewieck Digitale Drecksarbeit. Wie uns Facebook & Co. von dem Bösen erlösen berichtet in zehn Kapiteln über seine Recherche vor Ort in Manila, bei der er Mitarbeiter von Firmen interviewte, die für soziale Netzwerke Inhalte prüfen und gegebenenfalls löschen. Auf theoretischer Ebene verknüpft Riesewieck seine Vor-Ort-Beobachtungen mit Theorien des Begehrens und des Triebes, etwa von Sigmund Freud (u.a. vgl. 53) und Jacques Lacan (u.a. vgl. 49).

Die Netzwerke, deren Geschäftsmodelle von der größtmöglichen Offenheit ihrer Nutzer abhängen, sind selbst höchst verschwiegen – vor allem, wenn es um ihre eigenen Praktiken geht. Im Verlauf des Buches konzentriert sich Riesewieck in erster Linie auf Facebook, obwohl die Protagonisten, die er in Manila trifft, auch für Twitter, Youtube, Microsoft, Dating-Plattformen wie Tinder und andere arbeiten (u.a. vgl. 44). Die Firmen nutzen in Stellenausschreibungen Codewörter statt ihrer Markennamen (vgl. 132ff.), und zu den vielfältigen Schweigeklauseln, die die Arbeiter zu unterschreiben haben, gehört auch, dass sie nicht über ihre Arbeit sprechen: Für einen Stundenlohn von einem Euro und ohne substanzielle psychologische Supervision sichten junge Filipinos und Filipinas täglich viele Stunden Gewaltvideos und -fotos, Vergewaltigungen, auch von Kindern, Enthauptungen, Folter, Tierquälerei und Morde, etwa an Menschen, die ertränkt und dabei von Unterwasserkameras gefilmt werden (vgl. 37f.). Zwischen 5000 und 10.000 Bilder hat jeder Content Moderator pro Tag zu sichten (vgl. 47). Branchenkenner schätzen, dass es 2014 mehr als 100.000 Content Moderatoren gibt und damit doppelt so viele wie Angestellte bei Google und 14-mal mehr als bei Facebook. Andere Quellen sprechen von bis zu einer Million Beschäftigten (Rubel 2016).

Riesewieck fragt, warum sich ausgerechnet in Manila ein ganzer Industriezweig ansiedelte (vgl. 189), der – euphemistisch ausgedrückt – Inhalte prüft. Überraschenderweise argumentiert der Autor mit Kultur und Religiosität der Filipinos: 95 Prozent der Bevölkerung sind christlich. Und obwohl viele der jungen Menschen die Hauptverdiener in ihren Familien sind, können sie mit ihren Angehörigen nicht über ihre Arbeit sprechen. Einerseits, weil sie alle Schweigeklauseln unterschrieben haben (u. a. vgl. 135). Andererseits, weil ihre tägliche Arbeit unter religiösen Gesichtspunkten Sünde ist: Sie sortieren pornografische Bilder aus und müssen diese im Detail anschauen, um zu entscheiden, ob sie interne Richtlinien des jeweiligen sozialen Netzwerks verletzen. Riesewiecks Gesprächspartner beschreiben ihre Arbeit als “Putzjob“, nach dem sie sich “schmutzig“ fühlen (46), ihn aber zugleich als Mittel zur Heilung der Welt interpretieren (vgl. 38). Eine Firma lässt ihre Mitarbeiter in Werbevideos rufen: “We are the saving team. Saving the world!“ (40).

Moritz Riesewieck reißt in seinem Buch die drängenden Fragen an, denen sich eine digitale Gesellschaft, die Bürger- und Menschenrechte ernst nimmt, endlich stellen muss: immense Datenakkumulation durch globale Privatunternehmen, unzureichende Information des Einzelnen und der Öffentlichkeit, wozu diese Daten verwendet werden, fehlende Auskunftspflicht gegenüber den Mitgliedern der Netzwerke, Monopolisierung durch Aufkauf anderer Firmen (WhatsApp, Instagram z.B. gehören Facebook, vgl. 88ff.).

Allerdings argumentiert Riesewieck sprunghaft und fragmentiert. Die Idee, einen neuen Protagonisten einzuführen – wie die philippinische Content Moderatorin Bim auf Seite 71 – und dann über 27 Seiten völlig andere Aspekte anzureißen, taugt nicht zur Erhaltung eines Spannungsbogens oder der stringenten Darlegung eines Arguments. In diesem Fall windet der Autor sich von der Stadtprivatisierung (Manila als “Brennglas“ eines globalen Phänomens, Seite 76, versus Berlins Anziehungskraft, Seite 76f.) zur politisch-wirtschaftlichen Entwicklung der Philippinen seit den 1950er Jahren (vgl. 80ff.), Googles und Facebooks verklausulierten Selbstbeschreibungen als künftige Weltregierungen statt als digitale Dienstleister (vgl. 82ff.), der Kulturgeschichte der Gartenkunst (vgl. 93f.), bis hin zum Vergleich von Taschenkontrollen und Überwachungskameras in Malls mit Jeremy Benthams und Michel Foucaults Thesen zu Gefängnissen (vgl. 96f.), um dann endlich auf Seite 98 zum Treffen mit Bim zu kommen – können Sie, liebe Leserin und lieber Leser, sich noch erinnern, wer Bim war?

Riesewieck greift neben eigener Recherche auf die Dissertation von Sarah T. Roberts zurück, die die Arbeitsbedingungen von Content Moderatoren schon 2013 untersuchte (Roberts 2013, sowie Heinrich-Böll-Stiftung 2016), sowie jüngere journalistische Arbeiten über Content Moderatoren in Deutschland, die einen ähnlichen Job wie ihre Kollegen in Manila machen (Krause/Grassegger 2016; Drees 2016). Erstaunlicherweise zitiert Riesewieck aber keinmal einen Artikel, der bereits 2014 im Magazin Wired erschien: Unter dem bildhaften Titel “The Laborers Who Keep Dick Pics and Beheadings Out of Your Facebook Feed” beschreibt Autor Adrian Chen die Arbeit von Content Moderatoren auf den Philippinen. Anders als Riesewieck besuchte er Arbeiter in ihren Büros. Chens Protagonisten kündigen ihren Job nach kurzer Zeit, die psychologischen Probleme – Schlaf- und Lustlosigkeit, Misstrauen gegenüber Mitmenschen, Anzeichen posttraumatischer Belastungsstörungen – jedoch bleiben (Chen 2014; vgl. auch Pinchevski 2016; Krause/Grassegger 2016; Riesewieck 2017, S. 105).

Riesewiecks Buch und die erwähnten pointierten journalistischen Reportagen zeigen, wie wichtig wissenschaftliche und zeitnahe ethnografische Untersuchungen der Arbeitsbedingungen in Social-Media-Firmen wären – und wie schwierig sich der Zugang zu Gesprächspartnern gestalten kann. Eine kritische gesellschaftliche Debatte steht aus, die auch die Teilung der digitalen Welt in ausbeuterische Strukturen statt postulierter Gleichheit und tatsächlicher Partizipation miteinbezieht: Zu verführerisch ist die Aussicht des Einzelnen, weiterhin lieber den scheinbar kostenfreien Service von Facebook, Twitter, Google und so weiter anzunehmen – statt offen und laut deren Geschäftspraktiken zu kritisieren, oder gleich den Ausstieg zu vollziehen.

Riesewiecks Fazit greift dies auf und widerspricht zugleich dem Untertitel seines Buches: Nicht Firmen wie Facebook ‘erlösen‘ von dem Bösen, sondern aktive Bürger – durch Verantwortungsübernahme. Statt Facebook als Bühne zur Selbstdarstellung und damit als digitale Maske zu verstehen sollten “wir […] die Rolle, die wir wählen, ernst nehmen“ (289). Riesewieck empfiehlt, sich Videos als “Vor-Bilder“ zu nehmen, “in denen wir sehen, wie andere Gutes tun“, und selbst solche zu drehen (290). Leider benutzt Riesewieck in seinem Sachbuch durchweg dieses Wir, das zugleich anbiedert, gleichmacht, distanziert, und das längst auch im Journalismus außerhalb der Boulevardpresse angekommen ist.

Am Radikalsten ist Riesewiecks Vorschlag, Facebook freundlich zu übernehmen: Zwei Milliarden Menschen – Mitglieder bei Facebook, die bislang nicht mal Mitspracherecht über Nutzungsbedingungen haben – sollten Marc Zuckerberg auffordern, “Facebook dem größten Demokratisierungsprojekt der Menschheit zur Verfügung zu stellen! Schluss mit Sitzungen hinter verschlossenen Türen, in denen darüber beraten wird, was in der digitalen Öffentlichkeit stattfinden darf. Schluss mit Geheimverträgen mit Regierungen! […]“ (293). Doch bei allem Empowerment, das Riesewieck einfordert, bleibt zu befürchten, dass einer Reclaim the Internet-Bewegung genauso viel folgt wie den Reclaim the Streets-Versuchen in den 1990ern (Klein 1999): im Großen und Ganzen wenig Änderung. Auf das Ausbooten und Ignorieren von Bürger, die die Anerkennung und Einhaltung von sozialen und politischen Rechten auch im digitalen Raum einfordern, weist Riesewieck selbst mehrfach in seinem Buch hin.

Literatur:

Links:

 

Über das BuchMoritz Riesewieck: Digitale Drecksarbeit. Wie uns Facebook & Co. von dem Bösen erlösen. München [dtv] 2017, 304 Seiten, 17,40 Euro.Empfohlene ZitierweiseMoritz Riesewieck: Digitale Drecksarbeit. von Runge, Evelyn in rezensionen:kommunikation:medien, 13. November 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20783
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