Julia Niemann: Risiken und Nutzen der Kommunikation auf Social Networking Sites

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Rezensiert von Philip Sinner

julia_niemann_socialnetworking_smallEinzelrezension
Julia Niemann ist die erste Preisträgerin des Herbert von Halem Nachwuchspreises, der ihr 2014 auf dem Nachwuchstag der DGPuK in Berlin verliehen wurde. Mit diesem Preis wird ein vielversprechendes Dissertationsvorhaben ausgezeichnet, wobei er die zuschussfreie Publikation umfasst. Er wird von einer Jury aus fünf promovierten DGPuK-Mitgliedern vergeben, die von einem Vorstandsmitglied der DGPuK und von Verleger Herbert von Halem beraten werden. In seinem Verlag ist Niemanns Studie zu Risiken und Nutzen der Kommunikation auf Social Networking Sites nun als 14. Band der Neuen Schriften zur Online-Forschung erschienen. Dabei handelt es sich um ihre überarbeitete Doktorarbeit, die 2015 von der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hohenheim angenommen wurde.

Mit vorab verliehenen Preisen und Ehrungen ist es immer so eine Sache. Die Jury kann sich nie sicher sein, ob die Autorin oder der Autor und schließlich das Werk die hohen Erwartungen erfüllen können, die in sie gesetzt wurden. Vielmehr birgt eine solche Entscheidung das Risiko, dass sich die Jury im Nachhinein gar für die vergebene Auszeichnung rechtfertigen muss. Julia Niemann allerdings ist es gelungen, eine hervorragende Dissertationsschrift zu entwickeln, die einen wertvollen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs liefert und neue Erkenntnisse einbringt.

Ihre Studie befasst sich mit einem Thema, das keinesfalls als neu bezeichnet werden kann. Vielmehr treibt es die Kommunikationswissenschaft seit über zehn Jahren um und steht im Mittelpunkt insbesondere der Rezeptions- und Nutzungsforschung: die Nutzung von Social Networking Sites im Kontext von Chancen, Risiken, Privatsphäre und Selbstoffenbarung (S. 29-72). Dieser Umstand bringt es mit sich, dass Niemann auf einen umfangreichen Forschungsstand zurückgreifen konnte. Diesen arbeitet sie in Kapitel 2.5 (S. 72-97) nahezu vollständig auf und ordnet ihn kritisch ein. Einen absoluten Mehrwert stellt dabei Tabelle 59 im Anhang dar (S. 366-376). Übersichtlich präsentiert die Autorin alle erfassten Studien von 2005 bis 2015. Dabei bietet sie auch einen Überblick zu den verwendeten Methoden, den erfassten Netzwerken und Ländern sowie zu den Stichproben und deren Größe. Dies ist nur ein Beispiel für zwei Eigenschaften, durch die sich die gesamte Arbeit charakterisieren lässt: Transparenz und ein hohes Maß an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit. Auch die Literaturliste von 55 Seiten spricht eine deutliche Sprache.

Vor diesem Hintergrund bietet Niemann mit der ,Theory of Reasoned Action’ eine in der Kommunikationswissenschaft neue theoretische Perspektive auf die Selbstoffenbarung in Social Networking Sites. Die Autorin zeigt sich angesichts des Forschungsstandes überrascht über das bestehende Forschungsdefizit und setzt sich zum Ziel, neue Erkenntnisse zu generieren. Dazu formuliert sie, allerdings erst in Kapitel 4 (S. 142-161), sieben konkrete Forschungsfragen: Neben der Selbstoffenbarung ermittelt sie u.a., inwieweit sich die aufgestellte Theorie anwenden lässt. Sie prüft, wie Gewohnheiten die Nutzung beeinflussen und welche Hintergrundfaktoren bedeutsam sind. Zudem geht Niemann der komplexen Frage nach, ob das von ihr konstruierte empirische Modell für unterschiedliche soziodemographische Gruppen geeignet ist.

Bereits in der Einleitung stellt sie jedoch eine „übergeordnete Forschungsfrage“ (S. 23) auf, die die gesamte Untersuchung leitet: „Warum offenbaren sich Menschen auf Social Networking Sites, obwohl sie um die Risiken für die Privatsphäre wissen?“ Die Frage ist zwar grundlegend, gleichwohl wäre es angesichts der räumlichen Trennung, des Umfangs der Publikation von über 400 Seiten und des Kapitels zu den Forschungsfragen mit 20 Seiten wünschenswert gewesen, wenn alle Fragen gebündelt platziert wären. Dies würde der Leserschaft die Orientierung erleichtern.

Zweifellos verfügt der Ausgangspunkt des Werks über ein hohes Maß an gesellschaftlicher Relevanz. Das Missverhältnis zwischen dem Wissen/Denken und dem Handeln der User von Social Networking Sites bezeichnet die Autorin, mit Rückgriff auf die Literatur, als „Privacy Paradox“ (S. 23). Dieses Konstrukt bildet den Kern der umfangreichen theoretischen Auseinandersetzungen: Sie beginnen mit der Einführung in die Thematik zwischen Privatsphäre und Selbstoffenbarung (Kapitel 2, S. 29-72) und münden in der daraus resultierenden Verwendung der „Theory of Reasoned Action als Modell zur Erklärung von Verhalten“ (S. 98): „Im Reasoned-Action-Ansatz werden die kognitiven Komponenten ,Vorstellungen’, ,Einstellungen’ und ,Verhaltensintentionen’ in einer kausalen Kette angeordnet. Außerdem wird eine soziale Normenkomponente eingeführt, die berücksichtigt, dass Verhalten nicht isoliert, sondern in einem sozialen Rahmen stattfindet“ (S. 25f.).

In Kapitel 5 (S. 162-204) widmet sich Niemann dem zweiten Kern ihrer Studie, der methodischen Umsetzung: Sie führte eine standardisierte Online-Befragung mit zwei Erhebungswellen mit 1.031 Facebook-Usern durch. Die Stichprobe ist repräsentativ für die deutschen Nutzer von Facebook im Alter von 14 bis 69 Jahren (vgl. S. 27; 188). Auch in diesem Kapitel versäumt Niemann es nicht, nachvollziehbar zu arbeiten und ihre Arbeitsschritte offenzulegen und zu diskutieren. Dabei geht sie gleichermaßen auf die Auswahl- als auch die Erhebungs- und Auswertungsmethoden ein. Insbesondere thematisiert sie das Streben nach hoher Güte der Studie und die Herausforderungen bei der Online-Stichprobenziehung (S. 167; 188).

Die Ergebnisdarstellung in Kapitel 6 umfasst 93 Seiten (S. 205-297) und orientiert sich klar strukturiert an den Themenfeldern ihrer Forschungsfragen, wobei nach jedem Abschnitt ein Zwischenfazit gezogen wird. 15 Abbildungen und 41 Tabellen veranschaulichen die Resultate, dennoch bleibt die Rezeption des umfangreichen Ergebnisteils eine Herausforderung. Auch hier geht die Autorin sehr transparent vor: Sie weist auf solche Aspekte hin, die ihre Thesen zu schwächen vermögen und thematisiert die „Grenzen der durchgeführten Studie“ (S. 294). Darüber hinaus bietet der Anhang (S. 365-420) weitere 19 Tabellen, die etwa Informationen zur deskriptiven Auswertung und zu den Messmodellen bieten. Neben neuen und weitreichenden theoretisch-methodologischen Erkenntnissen bietet Niemann zahlreiche konkrete Ergebnisse, die als Mosaiksteine das Gesamtbild des Forschungsstandes gut ergänzen:

Selbstoffenbarung auf Social Networking Sites ist ein „generationsübergreifendes Phänomen“ (S. 299), wobei junge Nutzer sicherer und kontrollierter, da erfahrener, agieren als ältere Teilnehmer. Insgesamt bewege sich die Selbstoffenbarung aber auf niedrigem Niveau: Niemann stellte fest, dass Posts „in der Regel keine hochgradig intimen Inhalte“ behandeln und „eher oberflächlich“ bleiben (S. 298). Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die meisten User inzwischen für Fragen rund um Privatsphäre sensibilisiert sind und die zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen kennen und einsetzen (vgl. ebd.). Allerdings könne „die stetige, authentische Selbstoffenbarung“ in Sozialen Netzwerken die informationelle Privatsphäre „langfristig und irreversibel“ (S. 299) untergraben. Drastisch formuliert zieht die Autorin den Vergleich mit „selbstschädigendem Verhalten im Gesundheitsbereich“ in Form von „fetthaltiger Ernährung, Alkoholkonsum und mangelnder sportlicher Betätigung“ (S. 299).

Außerdem bezeichnet sie den „kognitive[n] Prozess, der zur Selbstoffenbarung führt“, als „offenbar von der Wahrnehmung der soeben geschilderten Risiken der institutionellen Privatsphäre vollständig entkoppelt“ (S. 301). Gemeint sind etwa neben etwa „Cyberbullying“ und „Facebook-Post“ auch Risiken durch die „datenverarbeitenden Stellen“, politische Äußerungen und Aufrufe sowie der Transfer von Daten „ins nicht zur EU gehörende Ausland“ (S. 300f.).

Den inhaltlichen Schlusspunkt bildet Kapitel 7 (S. 298-309). Es bietet für den eiligen Leser zunächst auf sieben Seiten eine hochkonzentrierte Zusammenfassung der Ergebnisse. Ihr schließen sich ein Ausblick und Konsequenzen an. Neben einer weiterführenden sozialwissenschaftlichen und interdisziplinären Auseinandersetzung in qualitativen und quantitativen Studien ermutigt Niemann, wie zahlreiche andere Kommunikationswissenschaftler, sich von Analysen einzelner Angebote zu lösen. Zusätzlich fordert sie, vor allem ,Risikogruppen’ (S. 307) weiterhin mit evidenzbasierten medienpädagogischen Hilfestellungen zu versorgen.

Niemann formuliert aber auch zwei Anregungen, die von Vertretern der engagierten Sozialforschung aus einer lebensweltlichen Perspektive seit geraumer Zeit vorgebracht werden: einerseits, dass der soziale Kontext stärker berücksichtigt werden müsse, „als dies bisher geschah“ (S. 306). Das heißt, der subjektive Sinn der User muss in der Forschung stärker erfasst und reflektiert werden. Andererseits seien Langzeitstudien notwendig, um Wandlungsprozesse auf technisch-medialer Ebene der Social Networking Sites als auch auf gesellschaftlicher Ebene und in den Einstellungen der Nutzer zur Privatsphäre zu erfassen (vgl. S. 305). Diese Erkenntnisse und Vorschläge sind, neben der theoretischen Modellierung und der Überprüfung des Reasoned-Action-Ansatzes, hervorzuheben und verdienen die Beachtung durch die Community.

Links:

Über das BuchJulia Niemann: Risiken und Nutzen der Kommunikation auf Social Networking Sites. Theoretische Modellierung und empirische Befunde auf Basis der „Theory of reasoned action“. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2016, 424 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseJulia Niemann: Risiken und Nutzen der Kommunikation auf Social Networking Sites. von Sinner, Philip in rezensionen:kommunikation:medien, 5. Dezember 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19650
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