Melanie Leidecker: „Das ist die Topgeschichte des Tages!“

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Rezensiert von Silke Fürst

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Mit der Auswahl und Gestaltung des Aufmachers signalisieren Nachrichtenmedien ihren Nutzern, welches Thema von besonderer Bedeutung ist. Die Rezeptionsforschung hat bereits nachgewiesen, dass formale Merkmale der Zeitungsgestaltung die Aufmerksamkeit der Leser lenken. Der erste Blick richtet sich häufig auf die erste Seite, die größte Schlagzeile und den umfangreichsten Artikel. Die deutsche Kommunikations- und Journalismusforschung unterstreicht seit Jahrzehnten diese herausragende Rolle von Aufmachern. Gleichwohl schenkt sie diesem Phänomen wenig gesonderte Beachtung. Inhaltsanalytische Studien zur Nachrichtenauswahl und -darstellung beziehen Aufmacher-Artikel zwar als Teil der Berichterstattung ein, weisen die Ergebnisse häufig aber nicht separat aus. Zudem mangelt es in der Kommunikationswissenschaft noch immer an historischen und zeitvergleichenden Studien (Kinnebrock et al. 2015; Melischek et al. 2008). Insofern stößt Melanie Leidecker in eine Forschungslücke vor, indem sie fragt: Seit wann gibt es in deutschen Tageszeitungen einen Aufmacher und wie hat sich dieser historisch entwickelt? Welche Ereignisse werden zu Aufmachern und welche redaktionellen Abläufe sind dabei bedeutsam? Inwiefern unterscheiden sich die Aufmacher verschiedener Zeitungen (vgl. S. 1)?

Diesen Fragen geht Leidecker in ihrer Dissertation nach, die sie 2013 an der Universität Mainz vorgelegt hat. Dazu stellt sie drei eigene Studien vor, die sowohl die geschichtliche Entwicklung als auch die gegenwärtige Auswahl und Gestaltung von Aufmachern beleuchten. Nach einer exemplarischen Analyse von 17 Tageszeitungen im Zeitraum von 1848 bis 1930 folgen Ergebnisse zu formalen und inhaltlichen Auswahl- und Gestaltungskriterien von Aufmachern, die aus Interviews mit fünf leitenden Redakteuren deutscher Tageszeitungen gewonnen wurden. Diese fünf Zeitungen werden anschließend einer Analyse unterzogen, die drei Messzeitpunkte umfasst (1989, 1999, 2009) und den größten Teil der Arbeit ausmacht.

Die Verfasserin hebt zunächst in sehr deutlicher Form die Relevanz ihrer eigenen Arbeit hervor. Nach ihrer Einschätzung fehlen „[s]ystematische und vergleichende Analysen, die sich mit dem Aufmacher als ‚Gesamtphänomen‘ beschäftigen, […] noch völlig“ (S. 1). Die Ausführungen zum Forschungsstand fallen entsprechend kurz aus (vgl. S. 9-17). Der theoretische Grundlagenteil besteht im Wesentlichen nicht aus spezifischen Erkenntnissen zum Aufmacher, sondern überwiegend zur journalistischen Nachrichtenselektion im Allgemeinen (vgl. S. 19-57). Dabei schlägt Leidecker Brücken zu ihrem Thema und stellt erste Vermutungen auf.

Es ist zweifelsohne richtig, dass bisher wenige Studien vorliegen und das Forschungsfeld überschaubar ist. Umso mehr darf man aber erwarten, dass bestehende Erkenntnisse Beachtung finden. Die Arbeit stützt sich leider vorzugsweise auf die deutsche Forschung und vernachlässigt dabei insbesondere US-amerikanische Erhebungen, die sich seit einigen Jahrzehnten mit Entwicklung und Gegenwart des „Newspaper Design“ beschäftigen. Diese Untersuchungen bieten Einblicke in die Themenauswahl sowie Artikelanzahl und -platzierungen auf der Titelseite von Tageszeitungen (siehe u.a. Beam 2003; Ogan et al. 1975; Utt/Pasternack 1989) und vergleichen sie mit Auswahl- und Darstellungsmustern in Fernseh- und Online-Nachrichten (Cooke 2005; Harney & Stone 1969).

Zudem liegen mehrere Arbeiten zur historischen Entwicklung des Aufmachers in den USA, in England, Frankreich und den Niederlanden vor, die die Autorin gar nicht würdigt (Broersma 2007; Campbell 2003; Morison 1932; Nerone & Barnhurst 1995; Marzolf 1984; Spencer 2007). Diesen Studien zufolge haben sich Aufmacher im Rahmen des „New Journalism“ und „Yellow Journalism“ bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und langsam verbreitet. Im Zuge des Ersten Weltkrieges erfuhren sie dann eine enorme Verstärkung. Es wäre insofern mehr Zurückhaltung bei der Behauptung geboten, dass bisher „keine kommunikationswissenschaftliche Studie [existiert], die die Entstehung des Aufmacher-Artikels beleuchtet“ (S. 59).

Für ihre Studie in deutschen Zeitungsarchiven kreist Leidecker den Untersuchungszeitraum ein und definiert, als Aufmacher gelte „der Artikel auf der Zeitungstitelseite mit der größten Überschrift und dem größten Spaltenumfang […], der in der Regel (in zentralen Teilen) über dem Bruch platziert ist“ (S. 7, vgl. auch S. 59). Die Autorin entdeckt in ihrer Analyse „Vor- und Frühstufen ‚echter‘ Aufmacher-Artikel“ (S. 76ff.), die noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen sind. Sie erfüllen zum Teil „eigentlich alle Kriterien ‚echter‘ Aufmacher-Artikel“, aber „nicht in ausgeprägter Form“ (S. 77). Es ist hier und an anderen Stellen nicht klar erkennbar, was diesen Unterschied ausmacht und die Unterscheidung von „Vor- oder Frühformen“ genau ermöglicht – zumal jene Artikel, die in der Arbeit als Aufmacher gelten, zum Teil nicht die aufgestellten Kriterien erfüllen (vgl. S. 89, 123, 190f., 217).

Leidecker kommt zu dem Schluss, dass der Erste Weltkrieg wesentlichen Einfluss auf die Etablierung des Aufmachers in deutschen Tageszeitungen hatte. Damit bestätige sich der frühe Befund von Lotte  Wölfle (1943), die in ihrer Dissertation schrieb: „Viele Zeitungen haben seit den sensationell aufgemachten Kriegsnachrichten, die meist eine ganze Titelseite füllten, über die ganze Seite aufzubauen gelernt. Sie stellen seither dem Leser instruktiv das Sturmzentrum des Tages, durch Schriftgrade und -Schnitte abgestuft, vor die Augen“ (zit. n. Leidecker, S. 92) Am Ende der Analyse steht also ein Ergebnis, das bereits vorher bekannt war. Da die Autorin die „schwer zugänglich[e]“ Dissertation von Wölfle (S. 82) nicht näher vorstellt und mit Blick auf deren Methodik erläutert, kann kaum eingeschätzt werden, inwiefern Leidecker mit diesem Teil der Arbeit zur Fundierung der bestehenden Erkenntnisse beigetragen hat.

In der darauffolgenden qualitativen Befragung erhellt sie die Gestaltung und Funktion des Aufmachers sowie die redaktionellen Abläufe, die zu dessen Entstehung führen (vgl. S. 95-168). Mit der Wahl der Interviewpartner werden verschiedene Zeitungstypen abgedeckt: Boulevardzeitungen, Regionalzeitungen und überregionale Qualitätszeitungen. Die leitenden Redakteure weisen der Titelseite und dem Aufmacher unisono eine hohe Bedeutung zu. An der Auswahl würden viele Redaktionsmitglieder mitwirken; die letzte Entscheidung obliege aber ranghohen Journalisten. Dabei spielen jene Kriterien eine Rolle, die in der Nachrichtenwertforschung gemeinhin als bedeutsam herausgestellt werden. Zudem betonen alle Interviewpartner, dass die antizipierten Publikumsinteressen Gewicht haben, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß.

Interessant für mögliche Veränderungen des Aufmachers erscheint der Befund, dass manche Redakteure Klickzahlen auf der Internet-Nachrichtenseite beobachten und daraus auf das Publikumsinteresse schließen (vgl. S. 130, 133). Sie wollen so online testen, welches Thema die Aufmerksamkeit der Leser anzieht und am nächsten Tag als Aufmacher für die Printzeitung gebracht werden könnte. Zugleich müsse aber berücksichtigt werden, dass die „Meldungen am nächsten Morgen, wenn die Zeitung erscheint, noch relevant und aktuell sind“ (S. 155). Dieses Spannungsfeld wird allerdings nicht näher diskutiert. Leidecker erkennt zwar die Wandlungsprozesse, die mit der Digitalisierung einhergehen, geht darauf aber auch an späterer Stelle nicht vertiefend ein (vgl. S. 175, 271, 336, 362). So werden in dieser Studie, wie auch in der folgenden Inhaltsanalyse, die Erkenntnispotenziale nicht ganz ausgeschöpft.

Die standardisierte Inhaltsanalyse ist so angelegt, dass Feststellungen aus den Leitfadeninterviews vertieft werden können. Analysiert werden jene deutschen Tageszeitungen, zu denen Redakteure befragt worden sind. Die Auswertung der Ergebnisse ist sehr umfassend (vgl. S. 185-350) und deskriptiv ausgerichtet. Neben zahlreichen formalen Merkmalen werden die Themenbereiche, Aktualitätsbezüge sowie geographischen Schwerpunkte der Aufmacher untersucht. Weiterhin wird erforscht, welche Hauptakteure in den Artikeln zu Wort kommen und welche Nachrichtenfaktoren sich identifizieren lassen. Verglichen werden nicht nur die Tageszeitungen, sondern auch die drei Messzeitpunkte, die zusammen einen Zeitraum von 20 Jahren abdecken. Darüber hinaus präsentiert die Autorin Daten zur thematischen Übereinstimmung der Aufmacher über verschiedene Zeitungen hinweg, indem sie Ausgaben desselben Tages vergleicht. Dabei stellt sich heraus, dass 32 Prozent aller Aufmacher exklusiv sind. Das heißt, dass sie in keiner anderen Zeitung als Aufmacher oder als Artikel auf der Titelseite gebracht werden (vgl. S. 261). Insgesamt zeigen sich jedoch auch Überschneidungen in den Auswahlentscheidungen; so sind rund 40 Prozent aller Aufmacher gleichzeitig die Aufmacher mindestens einer weiteren Zeitung.

Der Ergebnisdarstellung fehlt es zum Teil an Verdichtungen. Insgesamt bieten die Resultate jedoch einen guten Überblick, der zu weiterer Forschung anregen kann. Positiv hervorzuheben ist, dass bei der Diskussion der inhaltsanalytischen Daten auch Erkenntnisse aus den Leitfadeninterviews einfließen und die Studien dadurch miteinander verzahnt werden. Ein kurzer Exkurs (vgl. S. 331-334) zu der Frage, inwiefern sich die politische Linie des Blattes auf die Gestaltung der Schlagzeilen auswirkt, zeigt Potenziale für zukünftige qualitative Studien auf. Bedauerlich ist, dass weder der verwendete Leitfaden noch das Codebuch in der Arbeit zu finden sind.

Der Arbeit gelingt es zwar kaum, einen fundierten Überblick zum internationalen Stand dieses Forschungsfeldes zu geben. Aber sie leistet mit den empirischen Studien zum deutschen Journalismus einen Beitrag zu einem wichtigen Forschungsbereich, der weiter ausgebaut und mit Blick auf digitalisierungsbedingte Veränderungen erweitert werden sollte.

Literatur:

  • Beam, R. A.: Content Differences between Daily Newspapers with Strong and Weak Market Orientations. In: Journalism and Mass Communication Quarterly, 2, 2003, S. 368-390.
  • Kinnebrock, S.; C. Schwarzenegger; T. Birkner: Theorien des Medienwandels – Konturen eines emergierenden Forschungsfeldes? In: Dies. (Hrsg.): Theorien des Medienwandels. Köln [Herbert von Halem] 2015, S. 11-28.
  • Broersma, M.: Visual Strategies. Dutch Newspaper Design between Text and Image, 1900-2000. In: Ders. (Hrsg.): Form and Style in Journalism. European Newspapers and the Representation of News 1880-2005. Leuven [Peeters] 2007, S. 177-198.
  • Campbell, W. J.: Yellow Journalism: Puncturing the Myths, Defining the Legacies. Westport, CT [Praeger] 2003.
  • Cooke, L.: A Visual Convergence of Print, Television, and the Internet: Charting 40 Years of Design Change in News Presentation. In: New Media & Society, 1, 2005, S. 22-46.
  • Harney, R. F.; V. A. Stone: Television and Newspaper: Front Page Coverage of a Major News Story. In: Journal of Broadcasting, 2, 1969, S. 181-188.
  • Marzolf, M. T.: American ‘New Journalism’ Takes Root in Europe at End of 19th Century. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 3, 1984, S. 529-536.
  • Melischek, G.; J. Seethaler; J. Wilke: Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Medien & Kommunikationsforschung im Vergleich. Grundlagen, Gegenstandsbereiche, Verfahrensweisen. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2008, S. 9-16.
  • Morison, S.: The English Newspaper: Some Account of the Physical Development of Journals Printed in London Between 1622 & the Present Day. Cambridge [Cambridge University Press] 1932.
  • Nerone, J. C.; K. G. Barnhurst: Visual Mapping and Cultural Authority: Design Changes in U.S. Newspapers, 1920–1940. In: Journal of Communication, 2, 1995, S. 9-43.
  • Ogan, C.; I. Plymale; D. L. Smith; W. H. Turpin; D. L. Shaw: The Changing Front Page of the New York Times, 1900-1970. In: Journalism & Mass Communication Quarterly, 2, 1975, S. 340-344.
  • Spencer, D. R.: The Yellow Journalism: The Press and America’s Emergence as a World Power. Evanston [Northwestern University Press] 2007.
  • Utt, S. H.; S. Pasternack: How They Look: An Updated Study of American Newspaper Front Pages. In: Journalism Quarterly, 3, 1989, S. 621-627.
  • Wölfle, Lotte: Beiträge zu einer Geschichte der deutschen Zeitungstypographie von 1609-1938. Versuch einer Entwicklungsgeschichte des Umbruchs. Dissertation Universität München 1943.

Links:

Über das BuchMelanie Leidecker: "Das ist die Topgeschichte des Tages!" Der Aufmacher-Artikel deutscher Tageszeitungen im Vergleich. Köln/Weimar/Wien [Böhlau] 2015, 389 Seiten, 49,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseMelanie Leidecker: „Das ist die Topgeschichte des Tages!“. von Fürst, Silke in rezensionen:kommunikation:medien, 12. Dezember 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19686
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