Bernhard Pörksen (Hrsg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus

Einzelrezension
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Rezensiert von Meike Adam

Einzelrezension
Bernhard Pörksen gibt mit diesem Band eine umfassende Auseinandersetzung mit zentralen Texten unterschiedlicher konstruktivistischer Strömungen heraus. Die Autor_innen stellen sich damit einem nur unklar konturierten Feld disparater, teils auch einander widersprechender Forschungsansätze. Der Begriff Konstruktivismus wird über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinaus thematisiert und dadurch als eine breite, wenn auch wenig homogene Strömung nachvollzogen. Dem Herausgeber gelingt es in einer klaren und strukturierenden Einleitung, Konstruktivismus zugleich als ein Feld disparater Diskurse darzustellen, die von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Untersuchungsgegenständen geformt werden, und verbindende axiomatische Theoreme herauszuarbeiten. Pörksen unterscheidet philosophisch orientierte Theoriebestände, psychologische Ansätze, neurologisch bzw. biologisch argumentierende Entwürfe, wissenssoziologisch fundierten Konstruktivismus und eine Kybernetik zweiter Ordnung.

Als Kernproblem des Konstruktivismus präpariert er die Frage nach den Prozessen der Wirklichkeitserzeugung heraus (15). Die Annahme, Wirklichkeit entstehe in prozessualen Zusammenhängen, birgt grundlegende theoretische Implikationen, die verschiedene konstruktivistische Strömungen miteinander verbindet. In erster Linie sind dies: die Orientierung am Beobachter, der Abschied von absoluten Wahrheitsvorstellungen, eine Pluralisierung von Wirklichkeitsvorstellungen und die Betrachtung von Selbstreferenz und Rekursion als zentrale Prozesse der Wirklichkeitskonstitution (21–25).

Die wirklichkeitshervorbringenden Prozesse werden je unter-schiedlich definiert und verortet. Gemeinsam ist den konstrukti-vistischen Ansätzen die Loslösung von einem Wahrheitsbegriff, sie vollziehen eine “Bewegung von absolut zu relativ” (401). Der Konstruktivismus “stellt […] konsequent von Wirklichkeits-repräsentanz auf Beobachterrelativität um” (453). Im Zentrum steht das Konstitutionsverhältnis von (sinnlicher) Wahrnehmung und Erkenntnis, von Kants a priori bis hin zu Maturanas autopoeitischen System. Der von Ernst von Glasersfeld eingeführte Begriff der Viabilität, der all das umfasst “was Organismen in ihren Lebenswelten ‘überlebensfähig’ macht”, wird im Anschluss an den radikalen Konstruktivismus für viele Theorieansätze leitend, er “ersetzt im Bereich der menschlichen Erfahrung den traditionellen philosophischen Begriff der ‘Wahrheit'” (383).

Die versammelten Texte verdeutlichen: Die Frage nach der Selbstbestimmtheit des Menschen beantworten konstruktivistische Theorien extrem unterschiedlich. Während Kant den “Menschen als Erkenntnissubjekt wieder neu zentriert”, sodass ein “autonomes Subjekt die Bühne” betritt (40) – so die Bewertung von Manfred Geier – führen gerade neurologisch-biologisch argumentierende Ansätze immer wieder zur Frage nach dem freien Willen. Das Erkenntnissubjekt zerfällt hier in eine Unzahl neuronaler Aktivierungsmuster. Die kulturalistische Wende des Konstruk-tivismus fokussiert die interaktiv-kommunikativen Hervorbringungsbedingungen von Lebenswirklichkeiten.

Das Spektrum konstruktivistischer Theorien, die in Form von Theoriereferaten in den Sammelband Eingang gefunden haben, umfasst auch Autoren – wie Thomas Luckmann -, deren wissenschaftliche Selbstverortung sie nicht als Konstruktivisten ausweist und eine kritische Distanz zur Strömung des radikalen Konstruktivismus formuliert. Ein Verdienst des Bandes ist es, neben einschlägig bekannten Schlüsselwerken – vor allem radikal konstruktivistischer Strömungen – auch bisher weniger beachtete Texte vorzustellen. Der Begriff Konstruktivismus wird hinlänglich breit ausgelegt, um auch philosophische Vorläufer behandeln zu können, sodass eine einseitige Fokussierung etwa auf den häufig in der Rezeption dominanten radikalen Konstruktivismus vermieden wird.

Das Buch präsentiert die konstruktivistischen Schlüsselwerke in einem Dreischritt: Im Kapitel ‘Vorläufer und Bezugstheorien’ zeichnen die Autor_innen grundlegende philosophisch-ideengeschichtliche Entwicklungen nach, die als Bezugstheorien konstruktivistischer Ansätze dienen. Das Spektrum reicht von Kants Kritik der reinen Vernunft über Jean Piagets Theorie kognitiver Entwicklung bis zu Benjamin Lee Whorfs Sprachrelativismus. Im folgenden Kapitel ‘Grundlagen und Konzepte’ werden die unterschiedlichen Strömungen und erkenntnistheoretischen Konzepte ausdifferenziert. Das abschließende Kapitel widmet sich der ‘Anwendung und Nutzbarmachung’ sowohl in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft als auch in der therapeutischen oder sozialen Arbeit. Damit wird gezielt der teilweise recht komplexe und voraussetzungsreiche theoretische Diskurs, der in einzelnen Beiträgen nachgezeichnet wird, im Sinne der Viabilität in die Lebenswirklichkeit überführt. Der Band arbeitet so an einer “Differenzierung zwischen dem (radikalen) Konstruktivismus als eigenständiger Theorie und Epistemologie und der Diffusion konstruktivistischer Gedanken in andere Theorien oder Forschungsfelder” (457).

Der Aufbau der einzelnen Texte ist einheitlich: Sie umfassen jeweils eine kurze Betrachtung der Entstehungsbedingungen und Vorgeschichte, ein Theoriereferat des ausgewählten Textes und eine wirkungsgeschichtliche Einordnung. Trotz dieser strukturierenden Vorgaben unterscheiden sich die Texte deutlich hinsichtlich ihrer ideengeschichtlichen Reflexionstiefe. So wird die einleitende Betrachtung der Entstehungsbedingungen oft als kurzer Abriss der Biographie bearbeitet. Die einzelnen Autor_innen argumentieren zudem unterschiedlich werkbezogen.

Fraglich ist, ob sich anhand der zwangsläufig kursorischen Auseinandersetzung mit zu Schlüsselwerken erhobenen Texten ein strukturierter Einblick in konstruktivistische Theoreme gewinnen lässt, der sich nicht in der Wiedergabe der je spezifischen theoretischen Aufmerksamkeitsfoki und Konstruktionen des Untersuchungsgegenstandes erschöpft. Der Aufbau der einzelnen Texte, die jeweils auch eine kurze wissenschaftshistorische Einordnung bieten, verleiht dem Band den Anschein eines einführenden Textes, der eine strukturierende Betrachtung bietet. Der Zugang über eine werkbezogene Untersuchung führt allerdings dazu, dass die disparaten neuro-biologischen, (sprach-) philosophischen, psychologischen und interaktionistischen Begründungsstrategien unverbunden nebeneinander stehen.

Kohäsion wird im wesentlichen in der Einleitung von Bernhard Pörksen erzeugt, wünschenswert wäre eine stärkere Rückbindung der einzelnen Theoriereferate an die eingangs formulierten theoretischen Axiome. Eine systematische Auseinandersetzung mit parallelen postmodernen Wissenschaftsströmungen, die explizit oder implizit eine Bezugsgröße konstruktivistischer Theoreme sind, findet trotz des Kapitels über Vorläufer und Bezugstheorien nicht statt. Zu denken wäre hier etwa an den Dekonstruktivismus. Die punktuelle Betrachtung divergierender konstruktivistischer Positionen eröffnet eine breite theoretische Perspektive, Querverbindungen und ideengeschichtliche Bezüge müssen allerdings oft selbst hergestellt werden.

Links:

  • Verlagsinformationen zum Buch
  • Webpräsenz von Prof. Dr. Bernhard Pörksen am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Webpräsenz von Meike Adam (M.A.) am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg “Medien und kulturelle Kommunikation”
Über das BuchBernhard Pörksen (Hrsg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden [VS Verlag] 2011, 588 Seiten, 59,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseBernhard Pörksen (Hrsg.): Schlüsselwerke des Konstruktivismus. von Adam, Meike in rezensionen:kommunikation:medien, 3. September 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/9992
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