Julia Jochem: Performance 2.0

Einzelrezension
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Rezensiert von Michael Roslon

Einzelrezension
“Die ganze Welt ist eine Bühne” – gegenwärtig nimmt wohl keiner dieses Shakespeare-Zitat wörtlicher als die Flashmobber rund um den Planeten: sie nehmen den Raum der New Yorker Grand Central Station ein und halten die Zeit für 5 Minuten an, indem sie auf ein Signal hin in der körperlichen Pose einfrieren, in der sie sich gerade befinden. Julia Jochem widmet sich dem im deutschsprachigen Raum bisher wenig untersuchten Medien- und Kulturphänomen der ‘Flashmobs’. Die Verfasserin untersucht das Phänomen Flashmob von dessen medienbasierter Organisation über den konkreten Verlauf bis hin zur digitalen Speicherung bzw. Dokumentation im Internet. Die Autorin bringt dieses Wechselspiel zwischen gelebter kultureller Praxis (Performance) und webbasierter Mediennutzung (Web 2.0) auf die Formel: “Performance + 2.0 = Performance 2.0” (12). Der Begriff soll das Verhältnis von On- und Offline-Kommunikation sowie die Veränderung von Raumbeziehungen erfassen (vgl. 11f.).

Zu Beginn bettet die Verfasserin Flashmobs historisch und soziokulturell ein. Detailliert und kenntnisreich beschreibt und systematisiert die Verfasserin unterschiedliche Strömungen der Aktionskunst. Flashmobs werden als Weiterentwicklung von Aktionskunst im öffentlichen Raum verstanden, da sie die Gegebenheiten des Raums nutzen und das zufällig anwesende Publikum in ihre Aktion einbeziehen indem sie es irritieren. Zudem hat ein Flashmob Eventcharakter, da er medial aufbereitet, d. h. aufgezeichnet, geschnitten und veröffentlicht wird und die Teilnehmer weitestgehend anonym bleiben.

Anschließend wendet sich die Verfasserin ihrem eigentlichen Thema zu, dem Wechselspiel zwischen körperlich-sozialer Praxis im öffentlichen Raum und deren ‘medialer Einbettung’: die Organisation von Flashmobs vollzieht sich z. B. über SMS, Twitter oder Online-Communities und die Nachbereitung findet über Videoplattformen wie Youtube oder innerhalb der Websites der Communities im virtuellen Raum statt. Das Event Flashmob wird somit in zwei Räumen verortet, doch soll Performance 2.0 nicht bedeuten, dass lediglich ein Wechselspiel zwischen On- und Offline-Kommunikation vorliegt.

Performance 2.0 bedeutet, dass die Planung, Umsetzung und Nachbereitung des Flashmobs ein Zusammenspiel zwischen On- und Offline-Kommunikation ist, welches die Veränderung von Raumbeziehungen zur Folge hat. Es findet eine “Bildwanderung” (111) statt, d. h. ein Ereignis wird in unterschiedlichen räumlichen Kontexten (live und im Video) zum Erfahrungsgegenstand. Damit wird eine Beziehung zwischen dem materiellen und dem virtuellen Raum konstituiert, die einen hybriden Raum hervorbringt. Hinterlassen Flashmobs im materiellen Raum keine Spuren, so ist die Spur medial für jedermann auffindbar: hier bekommt das Online-Publikum die Chance, die Performance zu kommentieren und als Anstoß zu weiteren Flashmobs zu nehmen. Auf diese Weise wird der vermeintlich lineare Prozess zum “Kreislauf” (112).

Die Verfasserin kommt zu dem Schluss, dass es der neuen Begrifflichkeit bedarf, um das Verhältnis von Mediennutzung und sozialen Praktiken in Bezug auf die Raumbeziehungen erfassen zu können. Es irritiert, dass sie den Kreislauf in Form einer Addition darstellt (Performance + 2.0 = Performance 2.0). In ihrer Argumentation zeigt die Verfasserin, dass das Zusammenspiel zwischen sozialer Praxis und der Praxis der Mediennutzung gerade nicht auf die Summe der Einzelteile beschränkt werden kann.

Das Werk referiert und verwendet eine Vielzahl aktueller Ansätze (u. a. Netzwerkanalyse, Performance-Theorie, Freizeitkultur, Erlebnisgesellschaft). Dabei stützt sich die Verfasserin zu großen Teilen auf Sekundärliteratur, ohne auf die Primärquellen zu verweisen (z. B. Performanzbegriff bei Austin). Auch die Konstruktion des öffentlichen Raums durch soziale Praktiken hätte z. B. mit Rückgriff auf Lefebvre, Löw oder die kritische Auseinandersetzung durch die Situationistische Internationale genauer beleuchtet werden können.

Bei der Interpretation eines konkreten Flashmobs (vgl. 86ff.) wendet die Verfasserin in ihrer Qualifikationsarbeit weder bei der Auswahl des Datenmaterials noch der Dateninterpretation bzw. Videoanalyse (z. B. Reichertz, Englert 2011) eine methodisch reflektierte Vorgehensweise an. Stattdessen nutzt sie das Material, um die Argumentation und die theoretischen Konzepte zu stützen. Es sei zudem darauf verwiesen, dass das Werk zwei unterschiedliche Untertitel besitzt.

Performance 2.0 ist trotz der Monita ein innovativer und lesenswerter Beitrag zur Analyse eines sozialen Phänomens, das derzeit in verschiedenen Zusammenhängen (politisch, religiös, gesellschaftskritisch) eine beliebte Ausdrucksform darstellt und sich derart viral verbreitet, wie die Verfasserin es analytisch erfasst. Performance 2.0 ist zudem anschlussfähig an die medientheoretischen Arbeiten der Cultural Studies, woraus sich noch weitere Analyseaspekte von Flashmobs ableiten ließen. Aus diesem Grund stellt es einen guten Zugang zum Thema Flashmobs dar und richtet sich daher sowohl an Leser, die an dem Phänomen interessiert sind aber vor allem an alle Wissenschaftler, die das Phänomen, das zweifelsohne ein enormes Potential bietet, näher erforschen wollen. Und auch Shakespeare würde der Verfasserin sicherlich zustimmen und hinzufügen: “Die ganze Welt ist eine Bühne – sei diese Welt materiell oder medial.”

Literatur:

  • Reichertz, Jo; Englert, Carina Jasmin: Einführung in die qualitative Videoanalyse. Eine hermeneutisch-wissenssoziologische Fallanalyse. Wiesbaden [VS Verlag] 2011

Links:

 

Über das BuchJulia Jochem: Performance 2.0. Zur Mediengeschichte der Flashmobs. Reihe: Web 2.0, Band 1. Boizenburg [vwh - Verlag Werner Hülsbusch, Fachverlag für Medientechnik und -wirtschaft] 2011, 140 Seiten, 24,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseJulia Jochem: Performance 2.0. von Roslon, Michael in rezensionen:kommunikation:medien, 5. Juni 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/9139
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