Europäische (Publikums-)Öffentlichkeit

Einzelrezension
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Rezensiert von Julia Lönnendonker

Einzelrezension
Der Begriff der Europäischen Öffentlichkeit erlebte seit den frühen 1990ern einen enormen Bedeutungszuwachs in den Politik- und Sozialwissenschaften. Im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration und der Übertragung von Entscheidungskompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verstärkte sich die Diskussion um ein Legitimationsdefizit auf europäischer Ebene, das sich vor allem in einer mangelnden politischen Öffentlichkeit zu zeigen scheint. Obwohl gerade die Erweiterungsrunde im Jahr 2004 das Legitimationsproblem intensivierte, schwächte das Interesse der wissenschaftlichen Forschung zum Thema Europäische Öffentlichkeit doch gerade Mitte des neuen Jahrzehnts wieder ab. Umso begrüßenswerter sind die beiden hier vorliegenden Bände, die sich aus ganz unterschiedlicher Perspektive dem Thema widmen.

Der auf Beiträgen zur gleichnamigen Tagung (die im Februar 2009 in Wien stattfand) basierende knapp 500 Seiten umfassende Sammelband Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung von Horst Pöttker und Christian Schwarzenegger verknüpft das Thema Europäische Öffentlichkeit mit journalistischer Verantwortung. Pöttker argumentiert, dass Journalismus als Profession in einer funktional differenzierten Gesellschaft die Aufgabe habe, Öffentlichkeit (“publicness”) herzustellen. Daher spielt seiner Meinung nach das Vertrauen in die Mündigkeit des Publikums eine Hauptrolle im journalistischen Ethos ebenso wie die absolute Notwendigkeit der Unabhängigkeit des Journalismus von anderen medien-verwandten Berufsbildern.

Der Sammelband bietet eine Spannbreite von Beiträgen zu den beiden Themenkomplexen im Buchtitel (Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung), beginnend bei Aufsätzen zu empirischen Fallstudien zu europäischer Öffentlichkeit, hin zu einer Bestandsaufnahme der journalistischen Selbstregulierungmaßnahmen in den unterschiedlichen journalistischen Kulturen Europas, zudem wird das Für und Wider europäischer Institutionen der journalistischen Selbstkontrolle dargestellt.

Im Kern stellt der Sammelband damit die Frage, ob eine demokratie-legitimierende europäische Öffentlichkeit durch Institutionen europäischer journalistischer Selbstkontrolle gestärkt werden könne. Die Antworten auf diese Frage fallen durchaus gemischt aus: Kaarle Nordenstreng plädiert beispielsweise für einen Europäischen Rat für Medienselbstregulierung “in the form of a common European platform for monitoring media quality and ethics”. In ähnlicher Weise argumentiert Horst Pöttker für eine europäische Kommission journalistischer Selbstregulierung – ein “Council for a European Public Sphere” – die u. a. einem Ethikkodex für alle europäischen Journalisten erarbeiten soll. William Gore hingegen ist entschiedener Gegner eines European Press Council und eines gemeinsamen Code of Practice, weil er der Meinung ist, dass solche Institutionen auf sozialen Normen und geteilten kulturellen Erwartungen basierten und diese eindeutig national geprägt seien. Auch Daphne Koene ist der Auffassung, dass eine pan-europäische Medienselbstregulierung kaum effektiv sein könne. Peter Studer argumentiert, dass ein “aufgepfropfter europäischer Presserat” gar nationalen Presseräten schade.

Neben den 22 wissenschaftlichen Beiträgen zum Thema enthält der in Pöttkers Reihe Journalismus International erschienene Band ein Transkript einer Podiumsdiskussion der Tagung, auf der Vertreter des Journalismus und einzelner europäischer Presseräte der Frage nachgingen “wie man zu einer europäischen Selbstkontrolle des Journalismus gelangen kann und welche Hindernisse es auf dem Weg dorthin gibt”. Das Transkript erscheint zwar auf den ersten Blick sehr lang, liest sich aber aufgrund der vielen Praxisbeispiele und der kulturellen Vielfalt der Teilnehmer sehr interessant. Als leserfreundliche Elemente gibt es zudem ein Sach-, sowie ein Orts-, Länder- und Personenregister.

Zusammenfassend liefert das Buch einen guten überblicksartigen Einstieg in die beiden Hauptthemengebiete und im Detail bieten einzelne Beiträge teils sehr wertvolle (und zumindest für einen internationalen Sammelband) neue Einsichten in die Gestaltung journalistischer Selbstregulierung in Europa. Zu Recht weist Co-Herausgeber Christian Schwarzenegger in seinem Beitrag darauf hin, dass die Frage, wofür genau eine europäische journalistische Selbstverantwortung benötigt wird – nämlich einerseits um eine Europäische Öffentlichkeit zu entwickeln (“Such an understanding would imply that journalim and journalists carry responsibility for the emergence, establishment, progress and promotion of a European public sphere and that their journalistic efforts should foster the idea of a European public”) oder andererseits um eine journalistische Selbstverantwortung in einer europäischen Öffentlichkeit zu realisieren – vorausgesetzt man geht davon aus, dass diese bereits existiert, bislang oftmals unbeantwortet bleibt. Leider fehlt gerade diese analytische Unterscheidung in vielen Beiträgen des Buchs. Zudem stehen die beiden Themenkomplexe – ein häufiges Problem von Sammelbänden – relativ unverknüpft nebeneinander.

Die kurze Einleitung der beiden Herausgeber reißt die Kernfrage der analytischen Verknüpfung der Themen Öffentlichkeit und journalistischer Verantwortung in Europa lediglich an – hier hätte man sich eine detailliertere Einführung gewünscht. Vor allem die Beiträge des ersten Kapitels zur europäischen Öffentlichkeit stehen so relativ für sich allein; auch eine überblicksartige Einführung in den aktuellen Stand der Diskussion zu den verschiedenen Konzeptionen und Entwicklungsständen europäischer Öffentlichkeit (wie sie in einzelnen Kapiteln durchaus kurz erscheinen) wäre zu Beginn dieses Kapitels durchaus sinnvoll gewesen.

Einzelrezension
Gerade in der Aufarbeitung des umfangreichen und heterogenen Forschungsstands zur europäischen Öffentlichkeit liegt der Verdienst des zweiten hier vorgestellten Buchs:
Swantje Lingenberg stellt mit ihrem Buch Europäische Publikumsöffentlichkeiten, das eine gekürzte Fassung ihrer Promotionsschrift aus dem Jahr 2008 ist, dabei einen bislang nur wenig erforschten Bereich in den Vordergrund, nämlich den der Rolle des Publikums bei der Herstellung europäischer Öffentlichkeit.

Zunächst bietet Lingenberg auf etwa hundert Seiten einen sehr strukturierten Überblick über bestehende Öffentlichkeitsmodelle und Konzepte für die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit. Sie schlussfolgert, dass bestehende Konzepte europäischer Öffentlichkeit außerordentlich medienfokussiert sind “und dabei das Publikum mitsamt seiner kommunikativen Beteiligungen und Aneignungspraktiken weitgehend unberücksichtigt und ununtersucht lassen”.

Mithilfe von John Deweys pragmatischem Begriff der Öffentlichkeit der Transnationalität von Handlungsfolgen wie deren Wahrnehmung impliziert, versucht sie im zweiten Teil des Buchs “existierende Arbeiten zum Thema europäische Öffentlichkeit um eine Berücksichtigung der Publika und Mediennutzer und damit um eine kommunikationswissenschaftliche und weniger medienzentrierte Perspektive zu ergänzen und zu erweitern.” Lingenberg definiert europäische Öffentlichkeit so im Anschluss an Dewey (und bereits existierende Definitionen europäischer Öffentlichkeit als themen- und ereigniszentrierte Teilöffentlichkeiten wie sie etwa von Eder, Kantner und Trenz vertreten werden) als “ein dynamisches und translokales Netzwerk themen- und ereigniszentrierter Teilöffentlichkeiten”, “das durch transnationale europäische Diskurse konstituiert wird und genau dann existiert, wenn eine Konvergenz und Synchronität der diskutierten Themen und Argumente anzutreffen ist und wenn die Unionsbürger ihrer Betroffenheit und Interdependenz von und in europapolitischen Entscheidungs- und Problemzusammenhängen wahrnehmen und in entsprechende Diskurse eintreten.” Die Entstehung europäischer Öffentlichkeit ist hier also an Handlungs- und Problemzusammenhänge geknüpft und somit losgelöst von räumlichen Begrenzungen wie Territorialstaaten, Sprachen, Mediensystemen etc. denkbar.  Ausschlaggebend “sind letztlich die diskursiven Sinngebungs- und Aneignungsprozesse auf Seiten des Bürgerpublikums.”

Der dritte Teil des Buchs besteht aus Fallstudien zur europäischen Verfassungsdebatte, die untersuchen, wie sich die europäischen Bürger an europäischen Diskursen beteiligen und wie sie die Folgen der wechselseitigen Abhängigkeit mit den Menschen in anderen Mitliedsstaaten wahrnehmen. Mit Hilfe eines qualitativ-explorativen Verfahrens wurden Bürger in Frankreich, Italien und Deutschland mit qualitativen Leitfadeninterviews zur Verfassungsdebatte befragt. Obwohl die Debatte zeitgleich in den drei Ländern stattfand, konnte die Autorin einige Unterschiede in den Diskussionen, Lokalisierungen und Gewichtungen innerhalb der drei Länder herausarbeiten.

Zusammenfassend liegt der große Verdienst von Lingenbergs Buch in der Herausarbeitung eines sehr strukturierten und detaillierten Forschungsstands und der Einbringung der Perspektive des Publikums in die Diskussion um eine europäische Öffentlichkeit. Mit ihren empirischen Fallstudien bietet sie eine erste Umsetzung dieser perspektivischen Erweiterung der Forschungspraxis an, die sicherlich keine unerwarteten Ergebnisse zu Tage brachte und in der folgenden Forschung noch umfänglicher präzisiert werden kann. Nichtsdestotrotz bietet das Werk einen sehr guten Startpunkt für kommende Forschung zum Thema.

Links:

Über das BuchHorst Pöttker; Christian Schwarzenegger (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit und journalistische Verantwortung. Reihe: Journalismus International, Band 6. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2010.

Swantje Lingenberg: Europäische Publikumsöffentlichkeiten. Ein pragmatischer Ansatz. Wiesbaden [VS Verlag] 2010.Empfohlene ZitierweiseEuropäische (Publikums-)Öffentlichkeit. von Lönnendonker, Julia in rezensionen:kommunikation:medien, 1. April 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/8515
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