Peter Schumacher: Rezeption als Interaktion

Einzelrezension
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Rezensiert von Martin Welker

schumacher2009Einzelrezension
Die Dissertation von Peter Schumacher wurde am Fachbereich II der Universität Trier 2008 angenommen und ist als Band 36 der Reihe “Internet Research” in der Edition Reinhard Fischer erschienen, die jetzt im Nomos Verlag verlegt wird. Der 300 Seiten starke Band ist in acht Kapitel unterteilt und abgesehen von einem Anhang, einem Literaturverzeichnis, einer Einleitung und einem Fazit findet sich der inhaltliche Kern des Buches in vier Kapiteln. Das Literaturverzeichnis umfasst 15 Seiten und der Anhang die Dokumentation der in der empirischen Studie genutzten Testleitfäden. Die Auswertung der empirischen Rezeptionsstudie nimmt etwa 150 Seiten ein.

Die Motivation der Arbeit bestand darin, die Rezeption von Inhalten zu untersuchen, deren Form multimedial, hypertext-basiert und formal interaktiv gestaltet ist. Laut Untertitel des Buches sollen “multimodale Darstellungsformen im Online-Journalismus” untersucht werden. Das ist eine verdienstvolle Aufgabe, werden doch Online-Inhalte zunehmend in einer Form angeboten, die in nicht-onlinebasierten Medien bislang nicht zu verwirklichen war. Multimedia, Hypertext und Interaktivität seien bisher uneingelöste Versprechen des Online-Journalismus gewesen (9). Da diese nun aber immer häufiger umgesetzt würden, sei es an der Zeit zu untersuchen, welche Faktoren deren Rezeption bestimmen.

Der Autor nutzt als Sammelbezeichnung für journalistische Online-Inhalte wie Slideshows, interaktive Karten, Animationen und auch Bewegtbildinhalte (unter anderem Videokurznachrichten) den Ausdruck “IMD”, was für “interaktive, multimodale Darstellungsformen” steht. Dunkel bleibt zunächst der Absatz, der die theoretische Fundierung der Arbeit zusammenfasst (11): Der Studie liege ein funktionales, handlungstheoretisches Verständnis von journalistischer Kommunikation zugrunde, so der Autor, und “wie diese Kommunikation verläuft, entscheidet sich im Umgang des Rezipienten mit dem Medienangebot”. Journalistische Kommunikation ist hier also nicht mehr ein zweiseitiger, auf Verstehen ausgerichteter Prozess, sondern wird als einseitig auf den Nutzer bezogene Rezeption aufgefasst. “Die Funktion eines journalistischen Beitrags ergibt sich ebenfalls […] in diesem Prozess”, schreibt Schumacher. Das macht stutzig. Pointiert gesprochen wird hier dem Nutzer die entscheidende Rolle für das Gelingen von Kommunikation zugewiesen und mittels dieses Rezeptionskonzepts wird der journalistische und gesellschaftliche Funktionszusammenhang komplett ausgeblendet. So ist dann auch der folgende Satz nicht mehr verwunderlich: “Die Prinzipien der Multimodalität und Hypertextualität sind auch außerhalb der Domäne Online-Journalismus zunehmend in der Medienkommunikation umgesetzt, sei es […] in der Öffentlichkeitsarbeit oder dem E-Learning” (12). Somit ist hier offenbar völlig egal, in welchem funktionalen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang Inhalte rezipiert werden, alles ist quasi “Content”. Das aber ist eine Auffassung, die beim journalistik-interessierten Leser mehr als ein Stirnrunzeln verursacht. Außerdem bleibt zunächst unklar, welche handlungstheoretische Perspektive eigentlich eingenommen wird (zum Potenzial handlungstheoretischer Erklärungen für die Journalismusforschung vgl. Reinemann 2007; Schimank 2007). Es dauert bis Kapitel 4 (68ff.), bis der Leser versteht, dass die “handlungsorientierte Textlinguistik” (ebd.) und “kognitionstheoretische Ansätze” (ebd.) fruchtbar gemacht werden sollen.

Zur Auffassung “Alles ist Content” passend, orientiert sich der Abschnitt, in dem die “IMD” in Bezug auf journalistische Darstellungsformen diskutiert werden, überhaupt nicht an den akzeptierten Taxonomien für Darstellungsformen (“Schulen”), sondern listet lediglich einige Bezeichnungen für grafik- und bildbasierte Inhalte auf. In welchen journalistischen Bezügen diese neuen Formen möglicherweise genutzt werden, beispielsweise für eine Webreportage, für eine Doku, für einen Nachrichtenblock, eine Berichtsform oder für ein Feature, wird ausgeblendet. Stattdessen wird von einem “neuartige[n] Journalismus” (19) fabuliert, der sich aufgrund von “Konvergenzprozessen” gebildet hätte. Was aber neu an einem Journalismus sein soll, der Text, Bild und Grafik neu kombiniert, bleibt dunkel. Leider werden dann noch weitere Begriffsfässer aufgemacht: “Darstellungsweisen”, “Codierung”, “thematisches Cluster”, “Modi” und “Erscheinungsformen” führen hier eine muntere – aber leider unklare – taxonomische Koexistenz. Es zeigt sich, dass das Akronym “IMD” a) kaum an die gebräuchlichen journalistischen Darstellungsformen angebunden wird und dass b) aus journalistischer Sicht nicht zu erkennen ist, welchen Sinn es machen könnte, eine solche Bezeichnung überhaupt zu verwenden. Immerhin wird in Kapitel 3 eine Einordnung der Begriffe “Multimodalität”, “Hypertextualität” und “Interaktivität” angeboten. Bei der anschließenden Diskussion vermeintlicher journalistischer Grundfunktionen (“Veranschaulichen, Erklären, Erzählen”) vermisst der geneigte Leser dann zwei ganz entscheidende weitere Funktionen des Journalismus: das Informieren und das Unterhalten.

Konkreter wird die Arbeit ab Kapitel 5: Untersucht wurden insgesamt fünf Inhaltspakete aus dem Angebot von “ZDF-Online” und aus dem Online-Angebot der “Washington Post“. Es handelt sich dabei um eher featurehafte, dokumentationsähnliche Geschichten (118), die überwiegend auf der Rekombination von bereits vorhandenen Inhalten beruhen. Problematisch ist es, dass das englischsprachige Angebot der “Washington Post” von deutschen Probanden getestet wurde, obwohl dieses für sie schwieriger zu verstehen war als deutsche Angebote. Der eingesetzte Methodenmix enthielt die Methode des Lauten Denkens, die Blickaufzeichnung und die Befragung. 21 Probanden standen zur Verfügung, was das Etikett “qualitativ-explorativ” (275) rechtfertigt.

Aus den Transkripten und den Erkenntnissen der Blickaufzeichnungen wurden neun Rezeptionsprinzipien extrahiert: Segmentierung, gelernte Nutzungsmuster, explorierende Nutzung, Funktionalitätserwartung (in technischer Hinsicht), kontrollierte Rezeption, lineare Nutzung, konkurrierende Modi, komplementäre Modi und Modalitätsdifferenz (150). Aufgrund der gefundenen Rezeptionsprinzipien leitet der Autor Konsequenzen für die Gestaltung multimedialer/multimodaler Inhalte ab. Denn: “Die Interaktion mit multimodalen Angeboten hängt in hohem Maße von gestalterischen Merkmalen ab” (259). Die technische Rezeption bestimme dann das Verstehen der Inhalte. Das sollten Online-Redakteure beachten: Wer multimodale Inhalte produziere, müsse über die Rezeptionsprinzipien Bescheid wissen. Präsentation aber sei eine journalistische Aufgabe (277).

Das ist sicher richtig in dem Sinne, dass Mediengestalter oder Techniker eine journalistische Geschichte kaputt machen können, indem sie diese so verpacken, dass der Rezeptionsprozess gestört wird. Übrigens gilt das nicht nur für Online, sondern beispielsweise auch für Printangebote. Online lässt sich aber offenbar mehr falsch machen. “Weniger ist bei der Verpackung mehr”, dieses Fazit liest der Rezensent deshalb aus der vorliegenden Studie heraus. Hier bringt die Arbeit wichtige und kleinteilige Einsichten. Insgesamt aber geht der Autor nach dem Geschmack des Rezensenten zu wenig auf journalismusspezifische Funktionalitäten ein, auch im Hinblick auf den Untertitel der Arbeit. Journalistische Inhalte sollten eben nicht mit Lernsoftware oder multimodalen PR-Angeboten in einen Topf geworfen werden, weil sie funktionstheoretisch anders zu verorten sind, was sich auch auf die Rezeptionssituation auswirkt. Sowieso liegt im Online-Journalismus das innovativste Potenzial in den Grundfunktionen journalistischen Arbeitens wie dem Recherchieren (und nicht in der Gestaltung). Das zeigt aktuell unter anderem die Diskussion um das so genannte Crowdsourcing.

P.S.: Die Ergebnisse von Schumacher erinnern auch an solche zur Online-Forschung, welche unter anderem die Usability von Elementen in der Online-Befragung in den Blick nehmen. Farbe, Form und hypertextuelle Elemente sollten eher reduziert und in jedem Fall funktionsbezogen eingesetzt werden. Spielereien lohnen sich nicht.

Literatur:

  • Schimank, U.: “Handeln in Konstellationen: Die reflexive Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen”. In: Altmeppen, K.-D.; Hanitzsch, T.; Schlüter, C. (Hrsg.): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2007, S. 121-138.
  • Reinemann, C.: “Subjektiv rationale Akteure: Das Potenzial handlungstheoretischer Erklärungen für die Journalismusforschung”. In: Altmeppen, K.-D.; Hanitzsch, T.; Schlüter, C. (Hrsg.): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2007, S. 47-70.

Links:

Über das BuchPeter Schumacher: Rezeption als Interaktion. Wahrnehmung und Nutzung multimodaler Darstellungsformen im Online-Journalismus. Reihe: Internet Research, Band 36. Baden-Baden [Nomos/Edition Reinhard Fischer] 2009, 300 Seiten, 29,– Euro.Empfohlene ZitierweisePeter Schumacher: Rezeption als Interaktion. von Welker, Martin in rezensionen:kommunikation:medien, 4. November 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/815
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