Vilém Flusser: Kommunikologie weiter denken

Einzelrezension
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Rezensiert von Oliver Bidlo

flusser_2009Einzelrezension
Vilém Flussers Bochumer Vorlesungen wirken im Buchformat vordergründig in doppelter Hinsicht anachronistisch. Zum einen, weil sie in einer Zeit erscheinen, in der eher der umgekehrte Weg Verbreitung findet: Heutzutage wird ein geschriebenes Buch in der Regel zu einem Hörbuch umgesetzt; zum anderen, weil Flusser selbst in seinen theoretischen Überlegungen sowohl die Schrift als auch das Schreiben als nicht zukunftsträchtig ansah. Dennoch ist es erfreulich, dass die Bochumer Vorlesungen nun als Buchedition vorliegen. Das kurze Vorwort von Friedrich A. Kittler, der Flusser von Ende Mai bis Ende Juni 1991 als Gastprofessor nach Bochum einlud, nennt bereits einige Charakteristika der gehaltenen Vorlesungen: gerafft, akustisch aufgenommen, frei gesprochen.

Diese Aspekte sind zugleich prägend für die vorliegende Buchedition. Interessant und nicht unwichtig sind die editorischen Vorbemerkungen der Herausgeber Silvia Wagnermaier und Siegfried Zielinski, dem Direktor des Vilém-Flusser-Archivs in Berlin, die den Weg der Bochumer Vorlesungsreihe nachzeichnen. Bereits seit 2005 sind diese als Netzedition im Audio-Format über die Seiten des Flusser-Archives für die Öffentlichkeit zugänglich (http://www.flusser-archive.org). Von Seiten Flussers waren die Bochumer Vorlesungen von Beginn an so angelegt, dass sie später in eine Buchform gegossen werden sollten. Die jetzige Buchveröffentlichung kommt also dem Willen Flussers nach. Für die vorliegende Buchfassung musste in das umfangreiche Audio-Material vehement eingegriffen und sinnhaft gekürzt werden. Dergestalt war es von Seiten der Herausgeber eine kluge Entscheidung, in der Buchedition entsprechende Verweise auf die Netzedition zu implementieren, so dass eine Überprüfung und Nachführung jederzeit möglich ist.

Flusser war ein Buchmensch, ein Schreiber, dem das Schreiben lebensnotwendig war, auch wenn gerade er selbst die klassische Schrift und das Schreiben auf Papier mit Blick auf die Zukunft als überholt ansah. Zugleich galt Flusser als ein begnadeter Redner, der es verstand, im freien Vortrag die Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Dieser Aspekt schimmert durch die Buchedition hindurch, ist zwischen den Zeilen spürbar. Und das ist es auch, was dieses Buch so lesbar, unterhaltsam und mitunter spannend macht. Es sind die Sprünge in Flussers Denken, seine Präsenz und Leidenschaft, mit der er seine Ideen und Konzeptionen vorbringt. Die Themen des Buches sind weit gefasst und stellen in gewisser Hinsicht eine Verdichtung wesentlicher Teile des Flusser’schen Denkens dar. Der Titel des Buches Kommunikologie weiter denken ist insofern hoch gegriffen, als weiterführende Gedanken zu bisherigen Veröffentlichungen Flussers nur bedingt sichtbar sind. Vielmehr findet sich hier eine verdichtete und an manchen Stellen wesentlich verkürzte Darstellung von bereits Bekanntem.

Das kann einem durch andere Flusser-Lektüre nicht vorgebildeten Leser das Besondere an Flussers Denken durchgehen lassen. Ein Beispiel hierfür ist Flussers Darstellung der Proxemik. Auf eineinhalb Seiten verkürzt Flusser seine Konzeption von Proxemik derart, dass sie kaum verständlich ist. Proxemik, das Heranholen des entfernten Anderen, ist eine grundlegende Konzeption im Flusser’schen Denken. Der durch reversible Kabel Nahe-gebrachte-Entfernte, mit dem ich in einem Dialog stehe, wird für mich zu meinem Du, für das ich zugleich Verantwortung übernehme. Erst durch ein Du kann ein Ich entstehen. Oder anders gesagt: Es gibt kein Ich ohne Du. Flusser überschreitet nun mit der Konzeption der Proxemik die herkömmliche jüdisch-christliche Sichtweise, in der mit dem Anderen, dem Du, immer der mir unmittelbare Andere gemeint ist. Diese Sichtweise, besonders in Martin Bubers Dialogphilosophie ausgearbeitet und auf Flusser wirkend, überschreitet Flusser, indem er auch den entfernten Menschen, mit dem ich durch elektronische Hilfsmittel in Kontakt stehe, zu einem echten Du zählt, für das ein Ich ebenfalls Verantwortung – die Fähigkeit und Verpflichtung zur Antwort – zu übernehmen hat. Dieser Gedanke ist insofern zentral, als dass die Kommunikation mit und die Beziehung zu anderen Menschen uns aus der Einsamkeit der Existenz hebt und uns den Tod als unseren entropischen Endpunkt vergessen lässt.

Neu in dem Buch sind zumeist die Zusammenhänge und philosophischen Ursprünge, aus denen Flusser seine Gedankengänge und Überlegungen nachzeichnet und extrapoliert, so dass bereits von Flusser Bekanntes in neuen Beispielen präsentiert wird. Das wiederum hat seinen eigenen Reiz, da es der Überprüfung eigener Interpretationen von zuvor Gelesenem dienen kann. Schließlich war Flusser in früheren Veröffentlichungen immer sehr sparsam mit der Explikation eigener Quellen. Dies wird durch die Bochumer Vorlesungen an manchen Stellen deutlicher. So, wenn er zum Beispiel Heidegger gegen die griechische Philosophie um Platon argumentieren lässt oder betont, dass er “durch den saftigeren Heidegger zu dem richtigeren Husserl” (83) gekommen ist. Husserl markiert für Flusser einen Durchbruch in der Philosophie. In der eidetischen Reduktion findet Flusser eine Methode, die er zur Meisterschaft führt und von der aus er seine Streifzüge des Denkens beginnt.

Flusser sieht in der Überwindung der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft – und damit in der Aufspaltung des Menschen in Kultur und Natur – ein vordringliches Ziel für die Etablierung einer Kommunikologie. Schließlich gehe es in der menschlichen Kommunikation darum, “erworbene Informationen zu speichern, zu prozessieren und weiterzugeben” (26). Im Anschluss daran ist Kultur eine Vorrichtung zum Speichern und Weitergeben von Informationen. Das Prozessieren von Informationen zu neuen, anders zusammengestellten Informationen stellt den kreativen Prozess dar, in dem Flusser die Überwindung der Entropie – der zunehmend gleichen Verteilung der Elemente im geschlossenen System des Universums und der dadurch hervortretende Verlust von Information – sieht. Indem der Mensch kommuniziert, handelt er negentropisch, da er im Idealfall neue Informationen hervorbringt. Dieser Akt der Kreativität erfährt durch die neuen Kommunikationstechnologien eine Beschleunigung. Gerade hierin sieht Flusser die Chance in der Überwindung der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften: Sobald nämlich Maschinen und Technologien als ein kreativer Auswurf verstanden werden wie die Musik oder die Kunst, ist eine solche Trennung hinfällig. Kommunikation, Gestaltung und Entwerfen sind ein widernatürliches Verhalten des Menschen, das bestimmt wird vor dem Hintergrund des Wissens um den eigenen Tod. Es ist dies der Punkt, in den alle leiblich gebundenen Informationen der Entropie zugeführt werden. Kommunizieren ist dergestalt Handeln gegen den Tod.

Fazit: Das Buch ist besser als ein verdichtetes Lesebuch zum Denken Flussers zu fassen, als eine Vertiefung oder Weiterführung seiner zuvor in der Kommunikologie, Vom Subjekt zum Projekt oder Ins Universum der technischen Bilder dargelegten Ansätze und Konzeptionen. Das wiederum schmälert den Wert des Buches und der Lektüre nicht. Es ist ein echter Flusser, der gekennzeichnet ist von innovativen und überraschenden Beispielen und Überlegungen, einer Vehemenz und zugleich Sprunghaftigkeit in der Darstellung und provokativen Schlussfolgerungen.

Das Nachwort von Silvia Wagnermaier unterstreicht nochmals den steinigen Weg, den Flusser ging, um an erste Publikationsmöglichkeiten in Deutschland zu gelangen. Ein Glossar für lateinische und griechische Begrifflichkeiten und ein Namens-, Sach- und Ortsindex runden das Buch in seinem Nutzwert für die weitere Flusserforschung ab.

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Über das BuchVilém Flusser: Kommunikologie weiter denken. Die "Bochumer Vorlesungen". Herausgegeben von Silvia Wagnermeier und Siegried Zielinski. Mit einem Vorwort von Friedrich A. Kittler und einem Nachwort von Silvia Wagnermeier. Frankfurt am Main [Fischer Verlag] 2009, 320 Seiten, 12,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseVilém Flusser: Kommunikologie weiter denken. von Bidlo, Oliver in rezensionen:kommunikation:medien, 24. Juni 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/673
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