Anton Simons: Journalismus 2.0

Einzelrezension
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Rezensiert von Stefan Heijnk

Einzelrezension
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Anton Simons legt für alle, die sich einen Überblick über die Auswirkungen des Mitmachweb auf journalistische Arbeitsprozesse verschaffen und die sich wandelnden Mediennutzungs- gewohnheiten der Menschen besser verstehen wollen, ein nützliches Buch vor. Simons hält weitestgehend, was er in der Einleitung verspricht: Er will mit seinem Buch zeigen, “welche Konsequenzen das soziale Netz für Journalismus und Journalisten, für die Redaktionsarbeit und für Medienunternehmen hat” und “informieren über veränderte Erwartungen, Nutzungsgewohnheiten und Selbstverständnis der Medienkonsumenten sowie über den damit einhergehenden Wandel der Anforderungen an die Journalisten” (9). Dazu stellt er zunächst auf 100 Seiten ausführlich die Publikationswerkzeuge des Mitmachweb vor (von Blog über Wiki bis Social Music und Eventplattformen), skizziert dann den dramatischen Wandel, den diese Instrumente für journalistisches Publizieren induzieren (auf 50 Seiten) und prognostiziert schließlich, wie sich dieser Wandel auf den Journalismus auswirken kann, auf die Redaktionsorganisationen und letztlich auf die Journalistinnen und Journalisten (auf den verbleibenden gut 70 Seiten).

Inhaltlich liefert Simons eine substanzielle, plausible Analyse des sich wandelnden Verhältnisses zwischen Medienanbietern und Medienrezipienten. Er weist dazu perspektivisch auf zwei wesentliche Entwicklungstrends im Mediensystem hin: Einerseits emanzipieren sich die Medienrezipienten von der althergebrachten Deutungshoheit redaktioneller Medienbetriebe und begegnen ihnen nicht mehr als Konsumenten, sondern als Prosumenten (also als Konsumenten, die ihrerseits auch selbst als Produzenten aktiv sind). Und andererseits etablieren sich mit dem Internet ökonomische Rahmensetzungen, die die angestammten lukrativen Geschäftsmodelle ganzer Branchen in Frage stellen. Hier greift Simons prominent auf Chris Andersons Modell des ökonomischen Longtail auf, also den Gedanken, dass das Web die Angebotsnischen als Hauptumsatzquelle erschließt.

Im Ergebnis sieht Simons ein engmaschigeres Mediensystem entstehen, in dem sich professioneller Journalismus und Publikum auf Augenhöhe begegnen. Eine Zukunft werden nur jene Anbieter haben, so Simons, die diesen fundamentalen Wandel in prosumentenorientiert angemessene Angebotsformen umsetzen und die Menschen als Mitwirkende in ihre Wertschöpfungsprozesse einbeziehen. Auch wenn diese Kernthese nicht mehr so ganz jung ist: Im Medienmarkt hat sie sich längst noch nicht in allen Redaktionen herumgesprochen. Für Journalistinnen und Journalisten eröffnen sich in gleichem Zuge völlig neue Vertriebswege und damit Einkommensquellen (Crowdfunding, Selbstpublizieren per E-Book, journalistische Start-Ups für hyperlokale Themen etc.). Partiell, so Simons, könnte sich journalistische Tätigkeit tendenziell häufiger von den traditionellen Verlagen als Arbeitgeber lösen und auf eigene Rechnung mit eigenem Direktpublikum lohnen. Hier rekurriert er auf Gedanken, wie sie beispielsweise Jeff Jarvis schon vor einiger Zeit entwickelt hat.

Im Kern ist Simons Analyse sicherlich zuzustimmen: Medienanbieter werden ihr Publikum künftig nicht mehr in der überkommenen Top-Down-Richtung von oben herab mit Inhalt bedampfen, sondern Zielgruppen in Communities verwandeln und ernsthaft pflegen (müssen). Damit ändern sich zwar nicht die journalistischen Standards, wie Simons mehrfach zu Recht betont, aber es ändert sich das journalistische Rollenselbstbild. Gleichwohl bleibt manche seiner Aussagen diskussionswürdig. Nur ein Beispiel: Warum künftig die Zahl der festangestellten Journalisten zwingend schrumpfen soll, auch wenn die von ihm skizzierten Crossmediaredaktionen der Zukunft vielfältige neue Tätigkeitsprofile generieren, wird vom Autor beispielsweise nicht hinreichend ausgeleuchtet. Das schadet dem Buch dennoch in keiner Weise, denn diese Widersprüche bilden eher das ab, was auch in der Medienpraxis aktuell zu registrieren ist: eine nach wie vor breite Unsicherheit über die weitere Entwicklung des Journalismus.

Unerwähnt soll auch nicht bleiben, dass das Buch auch einige, die Lektüre störende Mängel aufweist. Dazu gehört beispielsweise eine nicht immer wirklich schlüssige Dramaturgie, etwa wenn die Detailanalyse dem Entdeckungszusammenhang vorausgeht. So beschreibt Simons zu Beginn seines Buches sehr detailliert und kenntnisreich die Publikationswerkzeuge des Web 2.0, widmet sich aber erst im Anschluss der zentralen Frage (in Kapitel 3 “Die Medienrevolution”), warum eine Kenntnis dieser Instrumente – von Blogs über Social Tagging bis hin zu Wikis – für die Zukunft des Journalismus so entscheidend wichtig ist. Hier wird das Pferd von hinten aufgezäumt. In umgekehrter Reihenfolge wäre das sicher sinnstiftender arrangiert gewesen.

Auch die Aktualität des Buches ist für das Thema nicht wirklich überzeugend: Bis auf wenige Ausnahmen arbeitet Simons mit Quellen aus dem Jahr 2009. Für ein Buch, das als Erscheinungsjahr 2011 angibt, ist das erstaunlich. Eine flankierende Website hätte dem Buch deshalb gut getan. Zudem stören neben den doch sehr zahlreichen Rechtschreib- und Grammatikfehlern vor allem die gelegentlichen Redundanzen; manche Satzpassagen tauchen an späterer Stelle nahezu wortgleich erneut auf. Gleichwohl ist das Buch ebenso wichtig wie lesenswert. Simons bezieht die Entwürfe und Modelle von Chris Anderson und Jeff Jarvis auf die deutsche Medienlandschaft und unterfüttert sie mit zahlreichen praktischen Beispielen. Sein Buch bietet insgesamt eine in weiten Strecken klare wie substanzielle Analyse der tiefgreifenden Auswirkungen des Web 2.0 auf den professionellen Journalismus.

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Über das BuchAnton Simons: Journalismus 2.0. Reihe: Praktischer Journalismus, Band 84. Konstanz [UVK] 2011, 236 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseAnton Simons: Journalismus 2.0. von Heijnk, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Oktober 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/6495
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