Cass R. Sunstein: Infotopia

Einzelrezension
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Rezensiert von Rainer Kuhlen

Einzelrezension
Von den richtigen Leuten zitiert zu werden, ist eine Freude für Autoren. Dass James Boyle in seinem Buch The Public Domain (2008) das Kapitel 8 zur “verteilten Kreativität” mit dem Hinweis auf Yochai Benklers The Wealth of Networks (2006) beginnt, ist recht und und billig. Benklers Grundzüge einer “commons-based economy”, in der sich über “peer production” neuen Formen verteilter Kreativität entfalten können, ist in der Tat das Standardwerk zu diesem Thema. Aber gleich im nächsten Absatz (286) heißt es: “Benkler’s work is hardly the only resource however. Other fine works covering some of the same themes include: Cass R. Sunstein, Infotopia: How Many Minds Produce Knowledge (New York: Oxford University Press, 2006)”. Das hat Cass R. Sunstein bestimmt gefreut. Sein Buch liegt jetzt mit dem gleichen Titel und dem Untertitel “Wie viele Köpfe Wissen produzieren” im Suhrkamp-Verlag vor, aus dem Amerikanischen flüssig und ohne erkennbare Einbuße übersetzt von Robin Celikates und Eva Engels.

Dass Sunstein sich im Vorwort besonders für die Unterstützung von Lawrence Lessig bedankt, schließt den Kreis. Gleich Boyle, Benkler, Lessig (und vielen anderen), geht es Sunstein darum, die Potenziale von Deliberation (“eine altehrwürdige Form der Interaktion”) im Kontext des Internet neu zu überprüfen. Für “Deliberation” hat sich in den letzten Jahren auch der Ausdruck “Kollaboration” durchgesetzt – in Deutschland, sicher auch in Frankreich, hat man sich damit etwas schwerer getan, weil das Wort sofort die Assoziation zu den “Kollaborateuren” (den Vaterlandsverrätern im Vichy-Regime) weckte. Es geht aber darum, die These zu belegen, dass in kollaborativ arbeitenden, deliberativen Gruppen “ein Ergebnis mit einiger Wahrscheinlichkeit viel besser ist, wenn Informationen auf die richtige Weise von vielen verschiedenen Personen aggregiert werden” (10).

In der Kollaborationstheorie des E-Learning, worauf Sunstein aber nicht explizit eingeht, wird das “aggregiert” oft noch offensiver verstanden, und zwar in dem Sinne, dass das in deliberativen Gruppen erzeugte Wissen mehr ist als die Summe des Wissens der einzelnen Personen in diesen Gruppen. Wie auch immer, auch eine gute Aggregation wäre schon ein gutes Ergebnis. Die Übersetzer haben übrigens gezögert, “deliberating groups” direkt als “deliberative Gruppen” stehen zu lassen. Anders als das Substantiv sei das Adjektiv bislang nicht eingeführt. Allerdings deckt die vorgeschlagene Übersetzung “diskutierende Gruppen” den Mehrwert von deliberativen Prozessen nicht vollständig ab. Es geht ja nicht primär ums Diskutieren oder um Kommunikationsprozesse (Sunstein rekurriert hier etwas verkürzt auf Jürgen Habermas), sondern um den aggregierten oder sogar gesteigerten Wissenszuwachs durch informationelle Austauschprozesse.

Sunstein ist von der Richtigkeit der These überzeugt, die von ihm ursprünglich aus dem ökonomischen Bereich der Marktprognosen entwickelt und in Infotopia verallgemeinert wurde: Der Zugang zu verstreuten Informationen kann “letztlich zu vernünftigeren Entscheidungen sowohl auf Märkten als auch in der Politik” führen (10). Aber Sunstein weiß auch, dass deliberative Prozesse, wenn unzulänglich durchgeführt, zu suboptimalen, oft sogar fatalen Resultaten führen können. Nicht umsonst hat Sunstein mit dem Hinweis auf “die richtige Weise” der Deliberation gleich den Riegel vor zu optimistischen Erwartungen vorgeschoben.

Das Buch ist voll von diesen Beispielen des “überraschenden Versagens deliberativer Gruppen” (Kapitel 2 und 3) – theoretisch zum Beispiel fundiert in der Auseinandersetzung mit den empirischen Ergebnissen der von Irving Janos initiierten “groupthink-theory” (“Gruppendenken-Theorie”), durch die nachgewiesen werden konnte, dass unter sozialem Druck oft genug “gedankenlose Einhelligkeit und gefährliche Selbstzensur” gefördert wird (24). Das bekannteste negative Beispiel sind die der Schweinebucht-Initiative vorangehenden “Deliberationen” im Kennedy-Zirkel – positiv dann wohl die Deliberationen, ebenfalls im Kennedy-Zirkel, im Zusammenhang der anderen, noch dramatischeren Kuba-/Raketen-Krise. Sunstein verwendet als Gegenpol zu den produktiven deliberativen Gruppen die Bezeichnung “Informationskokons”, die er in vielen Unternehmen vorgefunden hat. Das sind für ihn ebenfalls kommunikative Welten, aber solche, in denen wir nur das an Information aufnehmen, was uns beruhigt und zusagt – also nur das, was an sich schon Vorhandenes lediglich fortspinnt.

Sunsteins Buch ist also keineswegs eine bedingungslose Verteidigung der Überlegenheit von deliberativen Prozessen. Zu oft wird die “richtige Weise” nicht gefunden. Als zentrale Quellen des Versagens deliberativer Prozesse macht Sunstein aus, dass zum einen viele Menschen nicht in der Lage oder nicht willens sind, ihre eigene Position, auch wenn sie sie an sich für richtig halten, gegenüber der Mehrheitsmeinung oder der Meinung einer Autoritätsperson geltend zu machen. Oft wird auch nichts gesagt, wenn das Sagen keinen eigenen Vorteil verspricht. Die andere Quelle ist die Furcht vor Sanktionen, wovon der Ausschluss aus der Gruppe noch die geringste ist. Entsprechend haben deliberative Gruppen nach Sunstein vier große Probleme: 1) Gruppen verstärken die Fehler ihrer Mitglieder. 2) Informationen, die die Mitglieder an sich haben, werden in der Gruppe nicht offengelegt und so nicht bekannt. 3) Kaskadeneffekte: Blinde weisen anderen Blinden den Weg. 4) Gruppen neigen zur Polarisierung und kommen so zu extremen Ergebnissen.

Je weiter man in Sunsteins Buch voranschreitet, umso klarer wird, dass für ihn das Vorbild für erfolgreiche deliberative Prozesse die Prognosemärkte in der Wirtschaft sind (also die Aggregation privater Informationen), die wesentlich erfolgreicher abschneiden als die auch schon erstaunlich treffsicheren Mittelwerte von Umfragen in gar nicht mal so großen Gruppen. Intuitiv sträuben sich dabei die Haare, wenn empirisch gut nachgewiesen wird, das zum Beispiel Gerichts- beziehungsweise Jury-Entscheidungen (man denke an den Fall Michael Jackson) fast immer identisch mit den entsprechenden Ergebnissen der Prognosemärkte sind – was natürlich auch Sunstein nicht daran zweifeln lässt, dass die juristische Beweisaufnahme dennoch weiter unverzichtbar ist.

Das Buch gewinnt dann aber seine Attraktivität (und Sunstein betritt dabei auch für ihn durchaus noch wenig exploriertes Gelände), wenn Sunstein sich in Kapitel 5 die “Arbeit vieler Köpfe” am Beispiel der Wikis, Open-Source-Software und Blogs vornimmt. Das fängt mit dem kollaborativen Filtern an, wie es etwa bei Amazon mit Buchempfehlungen auf der Grundlage des Verhaltens vieler Käufer erfolgreich ist: Kaufe ich ein Buch “a”, das viele Leute neben einem Buch “b” ebenfalls gekauft haben, so ist es oft ein guter, tatsächlich ein fast schon immer unheimlich guter Tipp, auch mir das Buch “b” anzubieten.

Musterbeispiel für Netzdeliberationen ist hier natürlich die Online-Enzyklopädie Wikipedia, deren Erfolg auch schon der Gründer Jimmy Wales mit Gedanken von Hayek zur Preistheorie beziehungsweise zu Preissystemen erklärt hatte. In Sunsteins Worten: “Wenn Informationen weit verstreut sind und wenn es keinen einzelnen ‘Planer’ gibt, der Zugang zu dem hat, was gewusst wird, dann sprechen für die Arbeitsweise von Wikipedia generell die gleichen Gründe wie für das Preissystem” (190f.). Für den Ökonomen ist es dann gewiss eine große Versuchung, den Erfolg von Wikis auf den Unternehmensbereich zu übertragen. Hier werden positive und gescheiterte Ansätze angeführt. Es zeigt sich allerdings, wie auch bei Sunsteins folgendem Beispiel zur Open-Source-Software, dass eben das nicht Sunsteins genuine Welt ist, sodass er hier auch nicht mit gut begründeten Theorien (beispielsweise für Anreiz- und Belohnungssysteme) aufwarten kann, geschweigen denn mit repräsentativen Ergebnissen empirischer Studien zum Einsatz von Wikis oder Blogs in Unternehmen.

Aber das tut dem gesamten Unternehmen kaum einen Abbruch. Zu oft gelingen ihm gute Beobachtungen mit treffenden Feststellungen. So etwa, wenn er für die Open-Source-Software die “Kultur der Gabe” (gift economy) gegenüber der “Kultur des Austauschs” oder gar der “Warengesellschaft” herausstellt. Man wünschte sich, Sunstein hätte dabei mehr zu Innovationen fördernden Regelungen im Urheberrecht ausgeführt, als er es auf knapp anderthalb Seiten in Kapitel 5 getan hat, die zudem mehr auf Creative-Commons-Lizenzen eingehen als auf einschränkende (starke) oder öffnende (schwache) Urheberrechtsregulierungen.

Verteilte Informationen können in Gruppen nur zusammenkommen und offengelegt und dann genutzt werden, wenn die Mitglieder nicht befürchten müssen, dass Offenlegung und öffentliche Zugänglichmachung von Informationen für sie keine urheber- bzw. strafrechtlichen Sanktionen nach sich ziehen werden. Das und viele andere den Erfolg der Deliberation einschränkende Argumente halten Sunstein aber nicht davon ab, als Resümee “eine optimistische Sichtweise” einzunehmen:
“Wie niemals zuvor verfügt die Menschheit heute über vielversprechende Methoden, weitverstreute Quellen des Wissens und der Kreativität in einem Strom zusammenzuführen, dessen Produktivität erstaunlich ist. Der Wert dieser Methoden hängt letztlich natürlich davon ab, wie wir sie verwenden. Wenn wir aber wetten wollen, ist es sicher sinnvoll, eine Wette auf den Optimismus abzuschließen.”
Auf längere Sicht wird Sunstein hoffentlich recht behalten. Gegenwärtig hängt aber der Erfolg in vielen Situationen kollaborativer deliberativer Prozesse nicht in erster Linie davon ab, “wie” wir Methoden und Informationen verwenden, sondern “ob” uns die benötigten Informationen überhaupt zu fairen Bedingungen zugänglich, geschweige denn frei zugänglich sind. Das ist das andere Paradox, auf das Sunstein kaum eingeht: In der Tat ist heute wie noch nie in der Menschheitsgeschichte so viel an Information im Prinzip frei zugänglich, aber auch noch nie waren die Verknappungsformen (sei es über das Recht, die Preispolitik oder die Schutztechnik) so umfassend wie heute. Aber das mag ein Übergangsproblem sein. Setzen wir auf Sunstein!

Literatur:

  • Boyle, J.: The Public Domain. Enclosing the Commons of Mind. New Haven, London [Yale University Press] 2008.
  • Benkler, Y.: The Wealth of Networks. How Social Production Transforms Markets and Freedom. New Haven, London [Yale University Press] 2006.

Links:

Über das BuchCass R. Sunstein: Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren. Aus dem Englischen von Robin Celikates und Eva Engels. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2009, 285 Seiten, 24,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseCass R. Sunstein: Infotopia. von Kuhlen, Rainer in rezensionen:kommunikation:medien, 12. Februar 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/646
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