Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge

Einzelrezension
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Rezensiert von Matthias Karmasin

stiegler2008Einzelrezension
Der Text ist ein – in französischer Tradition – provokant formulierter Essay. Susanne Baghestani, die die Kapitel eins bis sechs der französischen Originalsausgabe, die den vorliegenden Band bilden, übersetzt hat, hat gute Arbeit geleistet. Das Buch ist gut lesbar und spiegelt doch den speziellen Zugang des Autors wider. Allein sein deutscher Titel wird dem eigentlichen Anliegen Stieglers nicht ganz gerecht. (Schade, dass der Suhrkamp Verlag im Falle der jüngst erschienenen Zweitauflage keinen angemesseneren Untertitel gewählt hat.)

Im Original heißt das Buch Prendre Soin. De la jeunesse et des génerations. Und genau darum geht es Stiegler auch: um das Verschwinden der Kindheit, um das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen, um den Generationenvertrag, der auch die Erziehung und die Fürsorge beinhaltet, um die Möglichkeiten der Übernahme von Verantwortung und um die Frage, inwieweit die Medialisierung und Technisierung der Lebenswelt all diese Verhältnisse verändert hat.

Die Grundthese, die Stiegler anhand von Beispielen aus der französischen Alltags- und Medienkultur variiert, lautet: Auch Erwachsene sind durch die kapitalistisch organisierten Medien infantilisiert; sie sind unfähig, Verantwortung (für sich, die Umwelt, ihre Kinder) zu übernehmen, und deswegen auch unmündig und nicht dazu in der Lage, für die Mündigkeit ihrer eigenen Kinder Sorge zu tragen. “Das bedeutet zugleich, daß die von den audiovisuellen Kulturindustrien kontrollierte Psychomacht den Prozeß der Vermittlung und Erziehung zerstört, der sich auf die philia, auf den vertrauensvollen Umgang mit der Nachkommenschaft, gründet.” (29)

Die Folgen sind – so Stiegler – beträchtlich: Die Unterschiede zwischen den Generationen verschwimmen, Erziehung und Fürsorge werden verunmöglicht, die Telekratie ersetzt die Demokratie und das Marketing wird zum dominanten Instrument der Sozialkontrolle. “Ziel der Programmindustrien als den bewaffneten Hilfskräften der Telekratie ist es, die Kontrolle über die Verhaltensprogramme zu übernehmen, die das Zusammenleben der sozialen Gruppen regeln, und ihnen das Erziehungsanrecht zu entreißen, um sie den unmittelbaren Bedürfnissen des Marktes besser anpassen zu können.” (92) Da gilt es Acht zu geben und sich Sorgen zu machen und eine “Schlacht für die Intelligenz” zu schlagen. Zumindest der Autor tut dies auf 163 Seiten.

Schade nur, dass das Buch mit Absichtserklärungen zur weiteren Forschung endet, ohne konkrete Alternativen zu dieser Phänomenologie der Medienkultur im Generationenkonflikt zu diskutieren. Auch wenn er seine Thesen lediglich kasuistisch illustriert und seine theoretische Fundierung eher eklektizistisch, denn fundiert wirkt, ist der Zugang Stieglers originell und gut nachvollziehbar. Das Wesen seiner Polemik ist es, Sachverhalte zuzuspitzen, auf Probleme aufmerksam zu machen und diese aufzuklären. Somit scheint das Anliegen der Aufklärung doch nicht ganz verloren.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ließe sich sicher einwenden, dass die Datenbasis für Stieglers Argumente dürftig und die methodologischen wie methodischen Voraussetzungen für seine Schlussfolgerungen nicht gegeben seien. Und dennoch: Gerade aus medienpädagogischer Perspektive, aber auch aus Sicht der Mediennutzungs- und Rezeptionsforschung, kann der kritische Zugang, den Stiegler aufzeigt, durchaus von Gewinn sein, sofern er in die Forschungsprogramme des Mainstreams integriert werden kann. Einige Argumente bedürften freilich der empirischen Prüfung, doch stellt gerade diese Möglichkeiten bereit, neue Perspektiven zu erschließen. Auch hier ginge es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Sowohl-als-Auch. Als Anregung dafür empfiehlt sich die Lektüre des Buches in jedem Falle. Aber auch jenseits heuristischer Vorteile ist die Beschäftigung mit diesem anregend und herausfordernd. Und mehr kann man von einem wissenschaftlichen Essay eigentlich kaum erwarten.

Links:

Über das BuchBernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Edition Unseld, Band 6. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2008, 163 Seiten, 10,– Euro.Empfohlene ZitierweiseBernard Stiegler: Die Logik der Sorge. von Karmasin, Matthias in rezensionen:kommunikation:medien, 12. Juni 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/559
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