Sabine Wettig: Imagination im Erkenntnisprozess

Einzelrezension
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Rezensiert von Jens Bonnemann

Einzelrezension
Wettig will einerseits zeigen, dass die Imagination eine konstitutive Funktion im menschlichen Erkenntnisprozess einnimmt, andererseits untersucht sie den Einfluss der Bildmedien auf das individuelle Vermögen zur Hervorbringung von Bildern. Die letzte Aufgabe ist für Wettig “eine der größten Herausforderungen” der Mediengeschichte (153). Das erste Kapitel bietet einen philosophiegeschichtlichen Überblick über die maßgeblichen Theorien zur Einbildungskraft von Aristoteles bis in die Gegenwart und ergreift Partei für jene Ansätze, die die Notwendigkeit der Imagination für die Erkenntnis geltend machen. Dieses Kapitel ist viel ausführlicher, als es für seine Funktion in der Gesamtkonzeption von Wettigs Arbeit eigentlich nötig wäre. Die Beschränkung auf einige wenige Autoren hätte möglicherweise zu mehr Präzision geführt und ein höheres Maß an argumentativer Auseinandersetzung erlaubt.

Im zweiten, gut recherchierten Kapitel, welches das Verhältnis von Imagination und Erkenntnis in eine historische Perspektive rückt, stützt sich Wettig auf Studien von Buddemeier u. a., die die neuzeitliche Rationalität als Produkt mediengeschichtlicher Entwicklungen analysieren (86). Mit der Ausbreitung der Schriftkultur im Gutenbergzeitalter komme es zu einer “logozentrischen Überformung des Gesichtssinnes” (155) sowie zu einer Ablösung des mimetisch-partizipierenden durch ein abstrakt-instrumentelles Weltverhältnis (81).

Nach Wettigs These üben nun die heutigen Bildmedien, welche die Wirklichkeit im Bild verdoppeln, eine therapeutische Wirkung auf die Imagination aus, die von den “zunehmenden Abstraktionsprozessen der Lebensverhältnisse” (177) verdrängt werde. Wie zuvor Kracauer, so sieht auch sie in den Bildmedien ein Heilmittel gegen die Auswüchse der Aufklärung – allerdings glaubt sie eher postmodern nicht mehr an eine Wiedererrettung der Realität, sondern setzt auf  die Neubelebung des individuellen Vermögens der Imagination.

Die heutigen technischen Bilder verhindern, wie Wettig erklärt, die Einordnung in einen sinnvollen Kontext und damit jene Distanzierung, die spezifisch für das moderne Subjekt ist. Infolge der dadurch größeren Konzentration auf die Gegenwart werde ich mir selbst als Schöpfer meiner Wirklichkeit bewusst (122) – offenbar soll dies paradoxerweise so sein, gerade weil jene Bilder sich meiner Kontrolle entziehen. Dabei spricht Wettig die Frage der Dosierung an, die aus den Bildmedien entweder Gifte oder Heilmittel macht (180). Ihre Erläuterungen bleiben allerdings eher vage und riskieren keine Konfrontation mit den Niederungen lebensweltlicher Situationen (vgl. Kapitel 3 bis 4). In der Dosis von wie viel Stunden rufen Videoclips eine somnambule Hingabe hervor, und wann bewirken sie eine Bewusstwerdung der Imagination?

Die neuen Medien motivieren also durch ihre Überforderung eine “Aufklärung der Imagination” (156). Diese vollziehe sich als ein leibliches “Spüren” und vertiefe sogar das Verständnis des menschlichen Daseins. Um ihre Überlegungen zu stützen, führt Wettig im fünften Kapitel eher assoziativ eine Reihe von Autoren unterschiedlicher Disziplinen an. Hier weiß man häufig nicht, was der eine Gedanke mit dem andern zu tun hat, da es ihr nicht gelingt, einen nachvollziehbaren argumentativen Zusammenhang herzustellen, in dem ihre These eine gewisse Überzeugungskraft entwickeln könnte.

Dass die Überforderung durch die Bildmedien eine Selbstaufklärung der Imagination mit sich bringt, leuchtet schon nicht unmittelbar ein. Schließlich wird jenem Spüren sogar noch die “Wiedergewinnung eines partizipierenden Bewusstseins” (179) und eines besseren, weil leiblich gegenwärtigeren menschlichen Lebens zugetraut. Um wirklich überzeugend zu sein, steht diese imposante Hauptthese allerdings insgesamt auf einer zu schmalen argumentativen Basis.

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Über das BuchSabine Wettig: Imagination im Erkenntnisprozess. Chancen und Herausforderungen im Zeitalter der Bildmedien. Eine anthropologische Perspektive. Reihe: Kultur- und Medientheorie. Bielefeld [Transcript Verlag] 2009, 204 Seiten, 26,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseSabine Wettig: Imagination im Erkenntnisprozess. von Bonnemann, Jens in rezensionen:kommunikation:medien, 10. Mai 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/2861
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