Julia Lönnendonker: Konstruktionen europäischer Identität

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Rezensiert von Arne Gellrich

Einzelrezension
2019 jährt sich der Beginn des Assozierungsprozesses zwischen der Türkei und der damaligen EWG zum sechzigsten Mal. Nicht zuletzt angesichts der derzeitigen Trübung der Beziehungen lohnt sich ein Blick zurück auf diesen langen Weg. Diesem Thema widmet sich Julia Lönnendonker in ihrer in diesem Jahr beim Herbert von Halem Verlag erschienenen Dissertation, für welche ihr 2016 von der TU Dortmund der Doktorgrad zuerkannt wurde. Lönnendonker untersucht darin diskursanalytisch die deutsche Presseperspektive auf die Verhandlungen und die in diesem Zusammenhang konstruierten Identitätsbilder von Türkei und EU.

Anhand von fünf Beobachtungszeiträumen von jeweils zwei Wochen um “historische Ereignisse“ auf dem “türkischen Weg nach Europa“ (289) analysiert sie die thematisch relevanten Artikel in SZ, FAZ, Welt, FR, TAZ, WAZ und Bild – “fünf überregionale[n] Tageszeitungen mit universellem Anspruch“ (290). Das so zustande kommende Sample unterzieht sie einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse und einer reflexiven Metaphernanalyse. Abschließend wertet sie die sich ergebenden Diskurskoalitionen aus. Lönnendonker sieht sich hier in der Tradition der wissenssoziologischen Diskursanalyse, zielt also nicht auf den Status quo zum jeweiligen Beobachtungszeitraum, sondern viel mehr auf die “wirklichkeitskonstruierenden Prozesse sozialer Diskurse“ (vgl. 230f.). Mittels der statistisch gestützten Analyse der Diskurskoalitionen positioniert die Autorin zu diesem Zweck Deutungsmuster, Bewertungen und Akteure relativ zu einander. Eingebettet werden Vorgehen und Erkenntnisse in die geschichtlichen Zusammenhänge um die Beobachtungszeiträume sowie in ein theoretisches Rahmenwerk auf Basis der drei normativen Modelle der liberalen, der republikanisch-kommunitaristischen und der deliberativen Demokratie.

Die Ausarbeitung dieses historischen und theoretischen Rahmens nimmt das erste Viertel des Werkes in Anspruch, gefolgt von einer ebenso umfangreichen Ausarbeitung der methodischen Vorgehensweise. Der Analyseteil auf den folgenden knapp dreihundert Seiten ist im Wesentlichen durch die Metaphernanalyse geprägt, welche neben der Inhaltsanalyse rigoros und systematisch für die einzelnen Untersuchungszeiträume betrieben wird. Dieses Vorgehen ist vielversprechend, gerade im Hinblick auf realitätskonstruierende Prozesse, entwickelt sich aber im Laufe der Arbeit mehr und mehr zu pflichtbewusster Routine denn tatsächlichem Motor der Untersuchung.

Inhaltlich sticht dabei besonders der Befund hervor, der Diskurs hinsichtlich der Bewertung der Türkei als potentielles Mitglied im Staatenbund habe sich seit 1959 stark geändert. So überwögen zunächst Stimmen, die sich dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (bzw. ihren Vorgängerorganisationen) durchaus positiv gesinnt zeigten, während das Bild sich zum aktuellsten Untersuchungszeitraum aus dem Jahr 2004 stark ins Negative gewendet habe. Ein von der Autorin selbst erkanntes – jedoch in der Auswertung wenig beachtetes – Problem ist dabei, dass sich Aufgrund des sehr kleinen Samples in den ersten zwei Untersuchungszeiträumen kaum die angedeutete Vergleichbarkeit rechtfertigen lässt. Auch sind die erzielten Ergebnisse in Bezug auf die eigentlich in den Mittelpunkt gestellten hintergründigen realitätskonstruierenden Prozesse für den Leser schwer nachvollziehbar. Sie werden rechnerisch rekonstruiert – und erhellend graphisch umgesetzt – bleiben dabei aber in ihrer Natur unerklärt.

Die deskriptive qualitative Analyse, auf der die statistische Auswertung basiert, lässt den Kontext der zitierten Stellen häufig außer Acht. Auf dieser Grundlage scheint es entsprechend schwer, eindeutige, für den Leser nachvollziehbare Aussagen über Framing, explizite wie implizite Bewertungen oder Paradigmen zu treffen. Zum Teil mögen in der Metaphernanalyse gar Fehldeutungen provoziert werden, wenn alltägliche Redewendungen (etwa “etwas in den Wind schlagen“, S.382) und bewusst eingesetzte Anspielungen (etwa „Das Boot ist voll“, bspw. bei der TAZ in ironischer Anlehnung an rechts-konservative Argumentationsweise, S.377f) auf eine Stufe gesetzt werden.

Beachtlich sind die methodische Rigorosität und der Umfang der von der Autorin geleisteten analytischen Arbeit. Das Ergebnis ist ein methodisch wie inhaltlich wertvoller Beitrag, der – gerade im Zusammenhang der aktuellen Entwicklungen – Perspektive schafft und relevante Fragen aufwirft. Die in Lönnendonkers Analyse deutlich werdende, zum Teil überraschende Positionierung einzelner Medien, wie etwa der zuvor als politisch eher rechts eingeordneten Welt und Bild, regt zum Nachdenken an, ebenso die eindrücklich geschilderte Willkürlichkeit und zeitaktuelle Bedingtheit der der EU und Türkei zugewiesenen Identitätsbilder. Aus der (trotz der im Titel suggerierten Universalität der Arbeit) bewussten Beschränkung auf den deutschen Pressediskurs ergibt sich die Frage nach anderen nationalen Zusammenhängen bzw. dem gesamteuropäischen, türkischen oder drittseitigen Diskurs. Auf Basis der erarbeiteten Muster und des methodischen Rahmens steuert Lönnendonker zudem wertvolle Forschungsperspektiven dies- und jenseits des Themenkomplexes bei.

Trotz ihres mit über 600 Seiten beträchtlichen Umfangs ist die Arbeit sprachlich einfach zugänglich, kohärent und überzeugend argumentiert. Damit ist sie einem interessierten Publikum innerhalb wie außerhalb der journalistischen, diskursanalytischen und kommunikationshistorischen Fachzusammenhänge zu empfehlen.

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Über das BuchJulia Lönnendonker: Konstruktionen europäischer Identität. Eine Analyse der Berichterstattung über die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei 1959 bis 2004. Reihe: Öffentlichkeit und Geschichte, Bd. 11. Köln [Herbert von Halem] 2018, 680 Seiten, 49,- Euro.Empfohlene ZitierweiseJulia Lönnendonker: Konstruktionen europäischer Identität. von Gellrich, Arne in rezensionen:kommunikation:medien, 10. August 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21346
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