Stefanie Averbeck-Lietz (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
“Transnationalität“ – ohnehin eine vage, jeweils erklärungsbedürftige Kategorie zumal in der Wissenschaft – dürfte nicht gerade zu den hervorstechenden Kennzeichen der deutschen Kommunikationswissenschaft (wie vieler anderer Disziplinen auch) gehören. Eher schon musste man, zumal nach ihrer empirischen Wende in den 1970er Jahren, eine weitgehende Abhängigkeit von der US-amerikanischen Forschung registrieren oder auch beklagen, die besonders von manchen Instituten – etwa dem Mainzer mit der demoskopischen Dependence in Allensbach und mit den weiteren Ausgründungen ihrer Adepten seit der enormen Expansion dieser Disziplin – recht rigoros verfolgt wurde; allein das Münchener Institut hat sich freilich in etwas ignoranter Verteidigung der geisteswissenschaftlichen Wurzeln lange Zeit dagegen gestemmt. Das alles hat sich in der Zwischenzeit weitgehend gelegt und relativiert, zumal der wachsende Qualifizierungsdruck den akademischen Nachwuchs zur weiteren und noch bedingungsloseren Anpassung an internationale Gepflogenheiten zwingt.

Bliebe noch die Klärung, was unter Kommunikationswissenschaft zu verstehen ist, was gerade in ihrer historischen Rekonstruktion ebenfalls diffus bleibt. Allein die angestammten Fachvertreter/innen der traditionellen Institute der – wie sie früher hieß – Publizistik(wissenschaft) haben eine ebenso einfache wie formale Definition. Alle anderen, weniger Privilegierten rangen und ringen um Zuordnung und Identität – wenngleich, auch dies sei zugestanden, die offiziellen Positionen besagter Disziplin längst offener und toleranter geworden sind. Denn seit jeher ist Kommunikations- und Medienforschung nicht nur in einer Disziplin und in besagten Instituten beheimatet. Unter den entgrenzenden Bedingungen einer so genannten “Big Science“ mit fast 55.000 Studierenden (2005), 85 Instituten (2002) (vgl. 114ff) und ungleich mehr einschlägigen Studiengängen an Universitäten und Fachhochschulen, lässt sich solche institutionelle und auch inhaltliche Oligarchie nicht mehr behaupten. Auch der tendenziell totalisierende digitale Wandel zwingt ständig zur Anpassung und Erweiterung, aber auch zur Bescheidenheit und Spezialisierung.

Gerade der Blick über die nationalen Barrieren motiviert zusätzlich zu solcher Offenheit in der jeweiligen Fachgeschichte. Denn dass sie keine isolierte und abgeschottete war, das lehren die 14 Beiträge über kommunikations- und medienwissenschaftliche Bemühungen – um es offener zu formulieren – in anderen Ländern, mit Ausnahme ausgerechnet der von Bremer Nachwuchswissenschaftlern am ausführlichsten aufgearbeiteten deutschen Fachgeschichte, die an diesem sehr jungen und von den angestammten Fachvertretern wenn überhaupt erst allmählich respektierten Institut eine gänzlich isolierte Binnensicht abliefern.

Offenbar haben sie nicht mitbekommen, dass besonders in den 1960er und 1970er Jahren Medienforschung unter dem Einfluss der Kritischen Theorie vorwiegend außerhalb besagter Institute vorangetrieben wurde, dies zu einer eigenen Disziplin Medienwissenschaft führte, während sich die angestammte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft weitgehend marginalisierte. Der folgenreiche Diskurs über quantitative und qualitative Methoden wurde ebenfalls außerhalb angestrengt. Inzwischen haben all diese Entwicklungen auch zur pluralistischen Öffnung und theoretisch-methodologischen Befruchtung der traditionellen Disziplin geführt – nicht zuletzt durch die Rezeption der ursprünglich britischen Cultural Studies, die auch nur schwer in die fachspezifische Perspektive Eingang gefunden haben. Deren Anerkennung und Weiterentwicklung verdankt die Kommunikations- und Medienwissenschaft übrigens just dem Initiator des Bremers Instituts, Andreas Hepp – auch dies ein signifikanter Meilenstein für eine breitere Fachgeschichte, zumal sie Anschluss an besagte kritische Theorie ermöglichen.

Aus den Beiträgen über die anderen Länder lassen sich solche Erkenntnisse unschwer gewinnen (und es dauert hoffentlich nicht noch einmal etliche Jahre, bis sie auch in die hiesige kommunikationswissenschaftliche Fachgeschichte inkorporiert werden), denn mehrheitlich zeigen sie die kontextuellen, vor allem allgemein historischen Bedingungen sowie die meist recht pragmatischen Intentionen auf, unter und mit denen Kommunikations- und Medienforschung betrieben wurde und wird. Vorrangig waren es nämlich zu Beginn Ausbildungsaufgaben für den journalistischen Nachwuchs meist in nicht ‘vollakademischen‘ Einrichtungen, nachdem sich signifikante Medienentwicklungen und entsprechender Arbeitsbedarf abzeichneten.

Hierzulande war die Entwicklung bekanntlich umgekehrt; erst in den 1970er Jahren wurde Journalistik als akademische Theorie und Praxis des Journalismus etwa in Dortmund und Hamburg akzeptiert (nachdem die DDR den Begriff als propagandistische Kaderschmiede in Leipzig zuvor reklamiert hatte). Daher ist das Unterfangen dieses Readers, die Entwicklungen besagter Disziplinen in diversen Ländern – womöglich auch mit transnationalen Bestrebungen und Interdependenzen – zu beleuchten, außerordentlich zu begrüßen und zu loben, zumal sich dieses Bestreben offenbar in zahlreiche ähnliche Bemühungen auf internationalem Parkett einordnet, wie die Bremer Herausgeberin und ihre Kollegin Maria Löblich an der FU Berlin eingangs kompetent darstellen.

Vierzehn Länder (plus BRD) konnten sie so erfassen, eingestandenermaßen recht “unsystematisch“, “nach Forschungskontakten der Herausgeberin“ (3), mit dem Schwerpunkt auf Europa (10 Beiträge) und fünf aus den USA, Mexiko, Brasilien, Ägypten und Japan. Schon diese Sammlung dürfte einen enormen Arbeits- und Kontaktaufwand erfordert haben. Natürlich sind darunter viele blinde Flecken zu vermerken, gerade auch für Europa, wo außer Spanien die südeuropäischen und außer Finnland die nordeuropäischen Länder fehlen. Vielleicht wäre es in einem (hoffentlich) zusammenwachsenden Europa daher naheliegender, sich zunächst erst einmal hier disziplinär kennenzulernen und zu verorten.

Um nicht weitgehend nur institutionelle und formal fachgeschichtliche Abrisse – was inzwischen wohl als “Sozialgestalt“ einer Disziplin gilt (ohne dass der Gestaltbegriff hinlänglich problematisiert wird) – zu bekommen, hat die Herausgeberin eine “problemorientierte“ (6) Darstellung vorgeschlagen, und zwar zu den Themenfeldern “Öffentlichkeits- und Nutzungsforschung“ (6). Daran halten sich die wenigsten Beiträger, am vorbildlichsten Heinz Bonfadelli aus der Schweiz (weil es bekanntlich auch ‘seine‘ Themen sind), generell vermutlich deshalb weil es eher Kategorien aus der deutschsprachigen Tradition sind. Mehrheitlich werden eher historische Abrisse der Disziplin- und Institutsgründung – am ausführlichsten etwa aus den Niederlanden mit ihren konfessionellen Hochschulen –  vorgelegt sowie die allmähliche Konturierung der Fachgeschichte nachgezeichnet.

Aber die Fokussierung auf die Öffentlichkeitskategorie führt wohl unbeabsichtigt dazu, dass viele Beiträge (etwa aus Finnland, Ägypten, den USA und anderen) über die (je nach der Übersetzung) zeitlich versetzte, kontextuell unterschiedliche, aber meist intensive Rezeption von Jürgen Habermas‘ Habilitationsschrift “Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (zuerst 1962) bis weit in die 1980er Jahre hinein berichten – gewissermaßen eine transnationale Beeinflussung, die – wie der finnische Beitrag (vgl. 212) zurecht moniert – der deutschen Publizistikwissenschaft abermals nicht zum Ruhm gereicht: Denn keine der ‘leading perodicals’, nämlich Publizistik und Rundfunk und Fernsehen, habe die Arbeit rezensiert (Ebd.). Allein die peniblen Pressehistoriker wiesen Habermas sachliche Fehler nach. Wäre da nicht eine nachträgliche Anerkennung vonseiten der Disziplin gerade auch unter internationaler Beteiligung angebracht?

Doch insgesamt bleibt die wechselseitige Aufarbeitung transnationaler wichtiger Forschungszweige, Erkenntnisse, Methoden und Befunde ein großes Desiderat, gerade nach den Grundlagen dieses Sammelbandes verspürt man eine große Neugier darauf, um die von der Herausgeberin eingangs geforderte “Ideengestalten“ zu erkunden und at work zu erfahren. Aber es dürfte eine immense Arbeit und wegen der unterschiedlichen Traditionen und Denkweisen auch eine ungeheure Koordinationsaufgabe sein. Immerhin zeichnen sich etliche akademische Einflusszonen und Entwicklungsprozesse ab, die die Herausgeberinnen auch eingangs aufzeichnen und die hier über die bereits erwähnten hinaus nochmals skizziert werden sollen (da jeden einzelnen Betrag zu würdigen, den Umfang einer Rezension sprengen würde):

1. Die hierzulande immer wieder beschworene Eigenständigkeit und Identität der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft dürfte international kaum durchzuhalten sein; sie erweist sich zudem angesichts der totalisierenden Tendenzen des medial-digitalen Wandels auch als fragwürdige Fiktion altvorderer Fachvertreter. Abhilfe könnte wohl allein schaffen, wenn man kommunikativ-mediale Problem- und Arbeitsfelder identifiziert und prüft, welche Ansätze und Methoden aus welchen Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften dafür geeignete Forschungsoptionen bieten.

2. Auch die wohl immer noch insgeheim oder offen gehegte Absicht, Kommunikationswissenschaft im kommoden Elfenbeinturm betreiben und die zeitbedingten wie politischen Herausforderungen ignorieren zu können, lässt sich weder international noch national aufrechterhalten. Denn so droht eine unterschwellige, nicht explizierte Politisierung. Besser ist es, Position und Intentionen offen zu diskutieren und sie in die theoretische Begründung zu integrieren.

3. Die politischen Entwicklungen und Verhältnisse haben vielen Länder manche Regimewechsel beschwert, die sich auch wissenschaftsgeschichtlich niederschlagen: Auf Phasen autoritärer Regime wie etwa in Deutschland, Spanien, Tschechien, Österreich, Mexiko, Brasilien, Ägypten mit politischer und ideologischer Indienstnahme der Wissenschaft und Medien folgten oft kritische bis linke oder marxistische Gegenbewegungen gerade in der Kommunikationswissenschaft, die sich erst allmählich mit der Etablierung der Demokratie relativierten.

4. Die in Deutschland in den 1970er Jahren forcierte Trennung zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaft, hinter der ja zusätzlich eine Opposition der Bezugswissenschaften, nämlich von Sozial- versus Geisteswissenschaft, steckt, dürfte international kaum jemand verstehen, ist auch nirgendwo sonst so strikt nachvollzogen worden. Auch wenn sie heute nicht mehr so rigoros gehandhabt wird, gehört sie auf den noch aufzuarbeitenden Prüfstand.

5. Überfällig ist auch die Klärung von Theorie, Forschung, Lehre und Ausbildungsaufgaben, die sich nicht zuletzt in der Benennung von Instituten und Studiengängen niederschlägt – paradigmatisch: Kommunikationswissenschaft versus Journalistik. International, außerhalb des deutschsprachigen Raum, ist sie – soweit die Befunde des Sammelbandes – nirgendwo vertreten, vielmehr wird die Ausbildung und Professionalisierung des journalistischen Nachwuchses als originäre und wichtige Aufgabe der einschlägigen Institute betrachtet und geschätzt.

6. Bemerkenswert sind besagte Einflusszonen der wissenschaftlichen Diskussionen: So war die frühe deutsche Zeitungswissenschaft für viele nationale Gründungen der Disziplin Vorbild und Orientierung. Die empirische Wende in den 1960er und 1970er Jahren vollzogen englischsprachige Länder meist im Nachvollzug der US-amerikanischen Forschung, wobei deren strikte positivistische und kommerzielle Ausrichtung auf vielerlei Kritik und Widerstand stieß und stößt. Die aus Großbritannien stammenden Cultural Studies boten und bieten eine willkommene Umorientierung und Weiterentwicklung auch mit qualitativen Methoden und unter Anknüpfung an frühere kritische Positionen. Romanophile Länder stehen eher unter dem Einfluss der französischen Semiotik – zumal in der Filmtheorie – und des Poststrukturalismus, haben mithin einen gänzlich anderen, nämlich ungleich weiteren Medienbegriff (der nur noch von McLuhan geteilt wird) und fokussieren sich eher auf kulturell-ästhetische Fragen. Daher zeigen sie sich immer noch recht reserviert gegenüber ausschließlich empirischen Vorgaben. In diesem Kontext vermisst man einen Beitrag aus Italien, etwa zu Antonio Gramsci und dem Eurokommunismus.

All diese Ausführungen sind nicht als beckmesserische Kritik an dem Sammelband zu verstehen. Als erster Anlauf hat er viel erreicht und motiviert deshalb, in diverse Richtungen weiter zu denken. Bleibt zu hoffen, dass jüngere Vertreter/innen der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Disziplinen diese Optionen und Herausforderungen aufgreifen.

Links:

Über das BuchStephanie Averbeck-Lietz (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. Transnationale Perspektiven. Wiesbaden [Springer VS] 2017, 454 Seiten, 69,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseStefanie Averbeck-Lietz (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft im internationalen Vergleich. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 20. März 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21114
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