Stefan Neuhaus, Uta Schaffers (Hrsg.): Was wir lesen sollen

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Rezensiert von Anne-Rose Meyer

Einzelrezension
Der Titel des Bandes bringt eine der heutzutage zentralen Problematiken im Umgang mit Literatur auf den Punkt: Was wir lesen sollen ist keineswegs leicht und eindeutig zu bestimmen. Schließlich nimmt die Zahl veröffentlichter Bücher mit jedem Jahr zu. Fragen danach, was Kinder in der Schule, was Studierende an Universitäten lesen, welche historisch-kritischen Editionsprojekte gefördert werden sollen, sind Gegenstand feuilletonistischer Debatten, didaktisch-literaturwissenschaftlicher Kontroversen und Auseinandersetzungen in den sozialen Medien. Und das ist unbedingt zu begrüßen, denn was in einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit als ein ‘gutes‘ Buch gilt, bestimmt das Leseverhalten vieler mit und hat starken Einfluss auf Prozesse der Kanonisierung und auf die Entwicklung von Curricula.

Die Literaturwissenschaftler Stefan Neuhaus und Uta Schaffers geben in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts (2016) in insgesamt fünf Abschnitten einen Überblick über wichtige Aspekte zum Thema und bieten Orientierung aus interdisziplinärer Perspektive. Sie versammeln Beiträge von Germanistinnen und Germanisten aus dem In- und Ausland, darunter Vertreter der Fachdidaktik Deutsch und der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, sowie Komparatistinnen, Kommunikationswissenschaftler, Erziehungswissenschaftler, Literaturkritiker, Publizisten sowie ein Sinologe, der über die politisch-gesellschaftliche Lage chinesischer Schriftsteller informiert.

Der erste Abschnitt – “Ein- und Hinführungen“ gewidmet – skizziert anhand zweier Beiträge die Geschichte literarischer Wertung. In ihrem einleitenden Aufsatz weisen die Herausgeber richtig darauf hin, dass sich spätestens in den 1960er Jahren hergebrachte ästhetische Ordnungskategorien auflösten, der Literaturbegriff eine Erweiterung erfuhr und Kategorien literarischer Wertung als historisch relativ und als häufig ideologisch geprägt erkannt wurden. Seither ist das, was unter ‘guter Literatur‘ verstanden wird, zu einem heftig diskutierten Begriff geworden, wobei immer noch nicht letztgültig geklärt ist, wie mit der damit einhergehenden Erweiterung des Kanons im Schulunterricht verfahren werden soll.

Die Geschichte der Kanonisierung und die Problematiken der Kanonbildung in der Gegenwart umreißt die österreichische Literaturkritikerin Sigrid Löffler. An Löfflers konzise Ausführungen schließt der zweite Teil des Buches an, der mit “Kanontheorie und Kanongeschichte(n)“ überschrieben ist. Stefan Neuhaus bietet darin einen Überblick über die Kanonforschung, Oliver Ruf zeigt am Beispiel Friedrich A. Kittlers, wie auch wissenschaftliche Theorien Kanonisierungsprozessen unterworfen sind. Volker Ladenthin weist in seinem “Plädoyer für die Hochkultur“ darauf hin, dass die Frage danach, welche Werke als kanonwürdig erachtet werden, untrennbar verbunden ist mit dem jeweiligen Literaturbegriff und mit der Frage nach dem Geltungsbereich und der Reichweite von Hochkultur.

Es ist programmatisch für die Anlage des gesamten Bandes, nicht nur Fragen ästhetischer Wertung und literarischer Rezeption aufzuwerfen, sondern diese immer auch mit Aspekten der Literaturvermittlung an Bildungsinstitutionen zu verbinden. Denn schließlich sind es staatliche Institutionen wie Schulen und Hochschulen, mittels derer Gesellschaften heutzutage die geordnete Tradierung von Literatur sicherstellen. Auch Volker Ladenthin bezieht fachdidaktische Überlegungen und Erkenntnisse der Bildungsforschung ein, wenn er im zweiten Teil seines lesenswerten Beitrages Kanonbildung als Ausdruck einer sozialen Verständigung über Sprache und Kultur definiert, die – so sein “Plädoyer“ – als Hochkultur in allen Bildungsinstitutionen vom Kindergarten bis zur Universität “gelebt werden“ müsse.

Wie instabil allerdings Vorstellungen von Hochkultur sind, zeigen die beiden folgenden Beiträge. Die Ausführungen Immanuel Novers sind u.a. Bret Easton Ellis und Rainald Goetz gewidmet, zwei Autoren, die sowohl durch ihre Werke wie durch ihr Auftreten in der Öffentlichkeit für Skandale sorgten. Der Skandal mache durch die Verletzung gesellschaftlicher und ästhetischer Grenzen diese überhaupt sozial erfahrbar, so eine Schlussfolgerung. Auf Werkebene lote ein Autor wie Christian Kracht Grenzen der Ästhetik und des ‘guten Geschmacks‘ aus, so Iris Meiner in ihrem Beitrag.

Der dritte Abschnitt des Sammelbandes ist der “Kanonpraxis heute“ gewidmet. Darin führt Helga Arend am Beispiel der Literaturförderung des Literarischen Colloquiums aus, wie Literaturförderung und Kanonbildung zusammenhängen. Doris Moser zeigt mit Blick auf die neusten Medien, wie die empirische Erforschung privat organisierter Leseforen im Internet, aber auch von Lesezirkeln in der analogen Welt, in Büchereien, Volkshochschulen oder privaten Wohnzimmern, dazu beitragen kann, Auswahl- und Bewertungsprozesse von Literatur besser zu verstehen. Renate Giacomuzzi, Nicolai Glasenapp, Timo Rouget, Holger Kellermann, Gabriele Mehling und Martin Rehfeldt bieten in mehreren Beiträgen interessante Einblicke in die Praxis des Bewertens von Literatur im Internet. Als eine wichtige Neuerung identifizieren sie die Laienkritik und damit das Internet als einen Raum, das einerseits die Möglichkeit zur Kritik demokratisiert, andererseits aber häufig nur ein undifferenziertes Verständnis von Literatur vermittelt.

Der vierte und umfangreichste Abschnitt ist dem Thema “Kanon in Schule und Universität“ gewidmet. Welchen Stellenwert hat Literaturgeschichte im Unterricht? Wie lässt sich das Verhältnis von Weltliteratur und nationalphilologischem Kanon im Deutschunterricht sinnvoll gestalten? Welches sind überhaupt Hauptwerke der deutschsprachigen Literatur? Dies sind Fragen, denen Lothar Bluhm, Uta Schaffers, Klaus Maiwald, Christian Dawidowski, Thomas Zabka und Jana Mikota in ihren Beiträgen nachgehen.

Im abschließenden Kapitel stellen die Beiträger “Kanonische Lektüren“ vor und nennen Gründe für deren Tradierung, etwa über schulische Curricula. Norbert Mecklenburg widmet sich Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche, Volker Ladenthin Friedrich Dürrenmatts Roman Der Richter und sein Henker, Michael Braun Uwe Tellkamps Roman Der Turm, Martin Hellström den Texten Tomas Tranströmers. Johann Holzner stellt am Beispiel von Franz Tumlers Prosatext Volterra die Frage, welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tradierung gegeben sein müssen. Urania Milevski empfiehlt Novellen von Helmut Krausser zur Aufnahme in Schul- und andere Kanones.

Insgesamt bietet der Band einen umfassenden und überaus lesenswerten Überblick über Probleme der Kanonisierung und literarischen Wertung unserer Zeit. Zwei Punkte bleiben allerdings unterbelichtet: Der eine ist der Einfluss von Literaturgeschichtsschreibung auf Prozesse der Kanonisierung, der andere die Beschreibung von Prozessen der De- und ggf. Rekanonisierung, die als bis heute einflussreiche Komplementärphänomene etwa in den geschichtlichen Exkursen hätten Erwähnung finden sollen.

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Über das BuchStefan Neuhaus, Uta Schaffers (Hrsg.): Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Reihe: Film - Medium - Diskurs, Bd. 74. Würzburg [Königshausen & Neumann] 2016, 490 Seiten, 49,- Euro.Empfohlene ZitierweiseStefan Neuhaus, Uta Schaffers (Hrsg.): Was wir lesen sollen. von Meyer, Anne-Rose in rezensionen:kommunikation:medien, 4. September 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20586
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