Marc Beise, Ulrich Schäfer: Deutschland digital

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Rezensiert von Oliver Zöllner

Einzelrezension
Vielleicht lesen Sie diesen Text mit Hilfe eines Browsers, der in Deutschland entwickelt wurde und großen Wert auf Datenschutz legt. Vielleicht sind Sie Kunde eines deutschen Online-Unternehmens, das mit seinen Interessenten anders umgeht als seine amerikanischen Konkurrenten. Vielleicht bietet dieses Unternehmen auch innovative Produkte und Dienstleistungen an und hat sich auf diese Weise eine robuste Nische erwirtschaftet oder gar zum Marktführer entwickelt. Solche Möglichkeiten gebe es durchaus, legen Marc Beise und Ulrich Schäfer in ihrem Sachbuch Deutschland digital (2016) dar. Allerdings seien sich die Deutschen dieser Chance oft nicht recht bewusst: Zu schwer wiege die vermeintliche unternehmerische Übermacht des Silicon Valley und anderer US-amerikanischer Ideen-Produktionsstandorte. Doch die Zukunft könnte auch ganz anders aussehen, legen die beiden Wirtschaftsredakteure der Süddeutschen Zeitung auf rund 250 Seiten im Reportagestil dar.

Das amerikanische Technologiezentrum, in dem Konzerne wie Apple, Google und Amazon beheimatet sind, hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten enorme Innovationen hervorgebracht, die unser Leben, Lernen und Arbeiten teilweise neu organisiert haben – oft zum Nutzen der Menschen. Dies unterschlagen die Autoren nicht. Doch ist der kalifornische Landstrich fast schon mythisch verklärt; so mancher mitteleuropäische Medien- oder Firmenvertreter, der dort einen Monat oder mehr im klischeehaften Kapuzenpulli verbracht hat, kam ,brainwashed‘ heim, wie es scheint. Die Autoren waren zwecks Recherche ebenfalls im Silicon Valley, haben für das Buch und ihre Zeitungsartikel Interviews geführt und dabei glücklicherweise ihre kritische Distanz bewahrt. Sie plädieren also nicht dafür, „einfach kritiklos zu übernehmen, was im Silicon Valley gang und gäbe ist“ (S. 238).

Zugegeben: In der selbstbewussten Anpreisung ihrer Produkte sind die Amerikaner gut. Viele Fachbücher aus dem Silicon-Valley-Umfeld nehmen eine technikdeterministische Perspektive ein, derzufolge die Dinge sich gar nicht anders entwickeln können als am führenden Entwicklungsstandort der IT-Branche vorgelebt (vgl. Kelly 2016). Unterhalb des Wahrnehmungsradars bleibt da oft, welche alternativen Ansätze und ökonomische Umsetzungskompetenz es auch in Mitteleuropa gibt. Beise und Schäfer stellen Beispiele aus zahlreichen Branchen und Firmen mit IT-Bezug vor. Am pointiertesten und treffendsten ist das Kapitel „Milbertshofen gegen Mountain View“ überschrieben. In ihm wird dargelegt, wie sich die Bayerischen Motorenwerke (BMW) zu einem zunehmend digital orientierten Unternehmen umbauen, um der disruptiven Konkurrenz aus Übersee zu begegnen – oder deutlicher: um in Zukunft nicht allein der bloße Stanzer und Zusammenschrauber des Blechs für die Autos der Zukunft zu sein, die dann Tesla heißen könnten. Die Kapitel konzentrieren sich aber nicht bloß auf etablierte deutsche Großunternehmen, sondern berichten mehrheitlich von mittelständischen Betrieben und Start-ups, die der breiten Öffentlichkeit oft nicht geläufig sind.

So zeigen sich die Autoren begeistert von den Innovationen, die in hiesigen Digital-Unternehmen entwickelt werden, und verweisen auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten dieser Produkte und der deutschen Industrie insgesamt. Hierfür seien allerdings „wohldosierte Reformen“ nötig (S. 238). Für die Ausgestaltung dieses Ziels stellen die beiden Wirtschaftsjournalisten als Abschluss einen Zwölf-Punkte-Plan auf (S. 239ff.). Dazu gehören u.a. eine Rückbesinnung auf die Dezentralität Deutschlands („Wir brauchen nicht ein großes deutsches Valley, sondern viele kleine!“), unternehmerisches statt behördliches Denken, Betonung der sozialen Marktwirtschaft, Ausbau der Netz-Infrastruktur (hier hinkt Deutschland in der Tat hinterher), eine neue private Gründerkultur, mehr Bildung und mehr Datenschutz. Der letztgenannte Punkt widerspricht allerdings der Forderung der Autoren wenige Seiten zuvor, in der sie das deutsche Verständnis von Datenschutz für zu streng und überholt ansehen. Diese Auffassung ist unverständlich, denn angesichts des raubzugartigen Umgangs vieler US-Firmen mit Daten – diesem neuen Rohstoff des 21. Jahrhunderts – könnten Geschäftsmodelle und Produkte aus Deutschland, die Datenschutz und Privatheit bewusst gewährleisten, eine große unternehmerische Chance darstellen. Dies klingt im Buch immer wieder an, wird von den Autoren aber letztlich zu wenig ausgeführt (siehe Hasselbalch/Tranberg 2016).

Zuzustimmen ist Marc Beise und Ulrich Schäfer in vielem, auch ihre Betonung, dass eine umfassendere digitale Bildung notwendig sei (S. 241f.). Wobei sich ,digitale Bildung‘ bei ihnen nicht auf das zu eng gedachte Konzept des ,Digitalpakts Schule‘ beschränkt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung entwickelt wird: Es will ab 2018 große Geldbeträge einsetzen, um die technische Infrastruktur an Schulen auszubauen und die instrumentelle Kompetenz der Schüler zu stärken. Wesentliche Aspekte der Digitalität – ihre ökonomischen, sozialen, kulturellen und ethischen Grundlagen – kommen darin aber kaum vor. Beise und Schäfer fordern daher völlig zu Recht, dass ,digitale Bildung‘ an Schulen und Hochschulen umfassender zugänglich sein müsse und sich nicht nur auf den Einsatz von digitalen Lehrmitteln im Unterricht konzentriere. Auch hier könnte Deutschland gegenüber dem (in vielen Belangen desaströsen) US-Bildungssystem deutlich punkten.

Insgesamt legen die Autoren ein flott, bisweilen etwas atemlos geschriebenes und meinungsfreudiges Sachbuch vor. Es liest sich als ein geradezu flammendes Plädoyer für eine Besinnung auf genuin mitteleuropäische Stärken und ein mutvolleres Auftreten der deutschen Digitalbranche, die keineswegs eine Digitalbrache ist. An einigen Stellen hätten Beise und Schäfer ihre Argumentation inhaltlich weiter durchdenken können; das größte Manko des Buches ist allerdings, dass es zum Zeitpunkt seines Erscheinens schon fast wieder veraltet ist: Viele der Interviews und Beobachtungen der Autoren sind bereits für tagesaktuelle Artikel in der Süddeutschen Zeitung verarbeitet worden – und in der Tagespublizistik kommt ein journalistischer Zugang zum Thema Digitalwirtschaft wohl auch am besten zum Einsatz.

Literatur:

  • Hasselbalch, Gry; Pernille Tranberg: Data Ethics. The New Competitive Advantage. Kopenhagen [Publishare] 2016.
  • Kelly, Kevin: The Inevitable. Understanding the 12 Technological Forces That Will Shape Our Future. New York [Viking] 2016.

Links:

Über das BuchMarc Beise, Ulrich Schäfer: Deutschland digital. Unsere Antwort auf das Silicon Valley. Frankfurt/M. [Campus] 2016, 255 Seiten, 19,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseMarc Beise, Ulrich Schäfer: Deutschland digital. von Zöllner, Oliver in rezensionen:kommunikation:medien, 30. Juni 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20327
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