Diana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto?

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Rezensiert von Jana Häussler

Einzelrezension
Sprachpflegern und selbst ernannten Hütern unserer Kulturnation sind Sätze wie im Titel ein Gräuel. Die Soziolinguistin Diana Marossek räumt in ihrem Buch mit dem verbreiteten Missverständnis auf, solche Sätze seien Ausdruck mangelnder Sprachkompetenz. Kiezdeutsch oder, wie Marossek es nennt, Kurzdeutsch ist eine Variante des Deutschen, die längst nicht mehr nur von Jugendlichen mit so genanntem Migrationshintergrund und Deutsch als Zweitsprache gesprochen wird. Ein typisches Merkmal des Kurzdeutschen ist der Verzicht auf Präpositionen und Artikel („Kommst du Bahnhof“ statt „Kommst du zum Bahnhof“). Hinzu kommen eine spezifische Sprachmelodie, Lautverschiebung des ich-Lauts zum sch-Laut (aus „ich“ wird „isch“), Routinen wie „ich schwör“ sowie rituelle Beschimpfungen.

Diese Phänomene und ihre weite Verbreitung belegt Marossek in einer umfangreichen Feldstudie, bei der sie als Referendarin getarnt Jugendliche an 30 Berliner Schulen in ihrem alltäglichen Sprachverhalten beobachtet hat. So gelingt ihr der Nachweis, dass Kurzdeutsch keineswegs auf zweisprachige Sprecher mit niedrigem Bildungsstand beschränkt ist. Zudem dokumentiert Marossek Kurzdeutsch-Phänomene auch im Sprachgebrauch erwachsener Sprecher. Im Buch bleibt es jedoch bei einigen wenigen anekdotischen Belegen. Das lässt die These zweifelhaft erscheinen, dass kurzdeutsche Phänomene bereits weitgehend Eingang in die Berliner Stadtsprache gefunden haben, die ebenfalls typische Reduktionsphänomene aufweist und auch Auslassungen kennt („Ich bin auf Arbeit“, „Biste mit Auto da?“, „Ich muss Südkreuz umsteigen“). Andererseits vermutet Marossek die historischen Quellen von Kurzdeutsch im Pidgin-Deutsch der ersten Generation türkischer Gastarbeiter, das durch Vereinfachungen und Interferenzen aus dem Türkischen geprägt ist. Durch den Fokus auf das Türkische wird der multiethnische Charakter von Kurzdeutsch leider vernachlässigt. Für die Zukunft prognostiziert Marossek, dass Kurzdeutsch in die deutsche Umgangssprache „einsozialisiert“ wird, sich also über Stadtgrenzen und Gruppenzugehörigkeiten hinaus verbreitet.

Aufschlussreich sind die Ausführungen der Autorin zu den Hintergründen ritueller Beschimpfungen: Wenn Manuel zu einem Klassenkameraden sagt „Tom, du Spast, guck dich an!“ und dieser entgegnet „Du Spast, Alter, wenn du Bad gehst und in Spiegel guckst, musst du aufpassen, dass er dich nicht ankotzt“, seien dies keine Beleidigungen, sondern vielmehr Respektbekundungen, ein „Gegenentwurf zu den gültigen Regeln der Höflichkeit in der Erwachsenenwelt“ (S. 77). Marossek diagnostiziert hierbei Unterschiede zwischen den Schultypen: Gymnasiasten seien kreativer im Beschimpfen, während Hauptschüler eher monoton die gleichen Formeln wiederholen und nur minimal variieren. Die wesentliche Funktion ritueller Beschimpfungen und generell der Verwendung von Kurzdeutsch sieht Marossek in der Selbstinszenierung als durchsetzungsstarke „Ghettobewohner“ (S. 83). Es gehe darum, Zugehörigkeit zur Gruppe zu signalisieren und sich von anderen Gruppen abzugrenzen.

Diana Marossek präsentiert ihre Beobachtungen in einem erzählenden Ton. Ähnlich wie in der populären Zwiebelfischkolumne von Bastian Sick werden die einzelnen Kapitel durch als autobiografisch präsentierte Episoden eingeleitet, und wie bei Sick beschleichen manchen Leser dabei wohl Zweifel ob der Authentizität. Das ist schade, denn die transkribierten Dialoge sind nicht nur amüsant zu lesen, sie dokumentieren auch interessante sprachliche Phänomene.

Leider versäumt die Sprachforscherin hier viele Gelegenheiten, weitergehende grammatische Einsichten zu ermöglichen und zu zeigen, dass Kurzdeutsch nicht regellos ist, sondern nach eigenen grammatischen Regeln funktioniert. Viele Analysen bleiben an der Oberfläche oder sind schlichtweg falsch, auch dies eine Gemeinsamkeit mit den Zwiebelfischkolumnen (vgl. Meinunger 2008). So behauptet Marossek zum Beispiel, dass die Verschmelzung (Kontraktion) von Präposition und Artikel („zum/zur“, „ins“, „beim“) im Standarddeutschen optional sei. Sätze wie „Anni geht in das Kino“ und „Anni geht ins Kino“ seien beliebig füreinander austauschbar (S. 25f.). Tatsächlich aber sind beide Sätze nicht bedeutungsgleich und nicht in allen Kontexten gleichermaßen akzeptabel. Zudem scheinen die Auslassungen in Marosseks Gesprächstranskripten nahezu obligatorisch, während andere Studien deutlich geringere Auslassungsraten finden (vgl. Wiese/Pohle 2016: 181).

Alles in allem bietet das Buch einen leichten Einstieg in ein spannendes Thema. Schade nur, dass weiterführende Literaturverweise, etwa auf Heike Wieses Publikation zum Kiezdeutsch (2012), gänzlich fehlen. Die Wahrnehmung aber wird geschärft.

Literatur:

  • Meinunger, Andre: Sick of Sick? Ein Streifzug durch die Sprache als Antwort auf den „Zwiebelfisch“. Berlin [Kadmos] 2008.
  • Wiese, Heike: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München [C.H. Beck] 2012.
  • Wiese, Heike; Maria Pohle: „Ich geh Kino“ oder „ins Kino“? Gebrauchsrestriktionen nichtkanonischer Lokalangaben. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 35(2), 2016, S. 171-216.

Links:

Über das BuchDiana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto? Warum wir reden, wie wir neuerdings reden. Berlin [Hanser Berlin] 2016, 160 Seiten, 15,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseDiana Marossek: Kommst du Bahnhof oder hast du Auto?. von Häussler, Jana in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Juli 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20315
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