Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hrsg.):
Phänomen Hörbuch

Einzelrezension, Interview, Rezensionen
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Im Interview mit Claas Morgenroth

Einzelrezension
Was ist ein Hörbuch? Wie kann man es beschreiben? Und wie lässt es sich praktisch erfassen? Diesen Fragen widmet sich der Sammelband Phänomen Hörbuch, der 2016 im transcript Verlag erschienen ist. Aus einer interdisziplinären Perspektive pendelt er in seinen zwölf Beiträgen zwischen theoretischen Definitionen eines Trendbegriffs und praktischen Feststellungen, wie Hörbücher produziert und rezipiert werden. Claas Morgenroth vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der TU Dortmund hat sich als Rezensent dem Phänomen genähert, die Neuerscheinung auf ihre Stärken und Schwächen geprüft und sie im Interview mit dem rkm-Journal offenbart.

r:k:m: Herr Morgenroth, Sie haben für das rkm-Journal den Sammelband „Phänomen Hörbuch“ gelesen, der von Stephanie Bung und Jenny Schrödl herausgegeben wurde. Ist es eher vorteilhaft oder problematisch, dass sich die Herausgeberinnen dem Thema in Form eines Sammelbandes widmen?

Claas Morgenroth: In den Wissenschaften wird über die Darstellungsform eines Sammelbandes häufig sehr schlecht gesprochen. Man kritisiert, es sei eine Art Container, in den man alles hineinwirft, was mal gesagt worden ist. Ich selbst bin ein Freund von Sammelbänden, weil sie meist heterogen angelegt sind und dadurch interessant werden. Zur vorliegenden Veröffentlichung muss man sagen, dass sie gut vorbereitet ist – durch einen Workshop, der 2012 stattfand, und durch eine Tagung 2015 an der FU Berlin.

r:k:m: Würden Sie sagen, dass die Inhalte durch diesen langen Vorlauf schon angestaubt sind oder präsentiert das Buch den aktuellen Forschungsstand?

Claas Morgenroth: Der Band gibt die Debatte ganz gut wieder und zeigt einen Querschnitt der Diskurse, Methoden und Theorien zum Hörbuch. Das ist besonders bemerkenswert, weil er das Thema aus einer interdisziplinären Perspektive erfasst. Zu den Autoren gehören Medienwissenschaftler, Germanisten und Romanisten, aber auch Lektoren, ergänzt durch ein Interview mit einer Schauspielerin. Inhaltlich geht der Band aber nicht über das hinaus, was sich schon an anderen Stellen findet.

r:k:m: Gilt das auch für die historische Erschließung des Gegenstands oder setzt das Buch hier mit neuen Interpretationen an?

Claas Morgenroth: Der Terminus „Hörbuch“ ist noch gar nicht so alt. In der Publikation wird mehrfach hervorgehoben, dass er eine Erfindung des Buchmarktes gewesen sei, als dieser sich schlecht entwickelt hat und man nach neuen Möglichkeiten suchte, den Markt zu beleben. Dabei ist festgestellt worden, dass die Lesung bekannter Bücher einen Mehrwert erzeugen kann – mit „Harry Potter“ als herausragendem Beispiel. Wenn man die Existenz aufgezeichneter Geschichten allerdings historisch verfolgt, ist das vom Prinzip her kein Neuland. Das geht zurück bis zur Walze, zur Schallplatte und zur Tonkassette, also zu allen Aufzeichnungsmedien, auf denen literarische Texte gesprochen wurden. Im vorliegenden Buch wird darauf hingewiesen.

r:k:m: Welche Begriffsdefinitionen zum Hörbuch bietet das Buch denn an?

Claas Morgenroth: Wenn wir an das Hörbuch denken, denken wir an die Lesung eines vorher veröffentlichten Romans. Damit ist aber noch kein Begriff definiert. In diesem Sammelband versucht man deshalb, sich von dieser alltagssprachlichen Vorstellung abzuwenden, indem man die verschiedenen Phänomene in den Blick nimmt – zum Beispiel die Hörlyrik. Das ist insofern interessant, als dass neue Lyrikbände zuweilen auch mit einer CD veröffentlicht werden. Der wesentliche Aspekt ist aber, dass es Gedichte gibt, die darauf angelegt sind, gesprochen zu werden, also eine akustische Realisierung zu erfahren. Der Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger nennt das audioliterales Schreiben. Auf das Hörbuch übertragen kann man sagen: Das Hörbuch ist ein Buch, das darauf hingeschrieben worden ist, gehört zu werden. Dieses Verständnis verändert die Beziehung zum geschriebenen Text, weil er schon in der Entstehung als akustischer Text gedacht wird.

r:k:m: Aber wohin führen diese Definitionen? Kreisen sie nicht oft um sich selbst?

Claas Morgenroth: Es gibt im Buch einen sehr schönen Beitrag der Lektorin Silvia Vormelker, in dem sie schreibt: „Die meisten Fachpublikationen beginnen heute mit einem Abriss bzw. Verriss der vorhandenen Hörbuchdefinitionen und fügen der langen Reihe einen weiteren, eigenen, neuen, richtigen Ansatz hinzu. Geht man aber von verschiedenen Kategorien des Hörbuchs aus, erledigt sich diese große Anstrengung von selbst“ (S. 81). Damit hat sie Recht. Letztlich kommen alle zu dem Ergebnis: Wir wissen es nicht so genau. Das hat vielleicht etwas Erfreuliches, aber auch etwas Ermüdendes, was auch für Teile des Buches gilt.

r:k:m: In den Fallbeschreibungen geht es auch um schwierige Werke wie Elfriede Jelineks Monolog-Roman „Neid“, an anderer Stelle wird Hörlyrik thematisiert, die sich mit Auschwitz beschäftigt. Sind das Sonderfälle oder ist der Anspruch des Buches relativ hoch?

Claas Morgenroth: Der Band gibt definitiv die Fachdiskussion wieder. Solche Einzelfälle sind natürlich interessant, weil sie eine ästhetische Herausforderung darstellen: Sie versuchen, eine spezifische Kunstform zu etablieren, die multimedial angelegt ist, wie es bei Elfriede Jelinek der Fall ist (zur Produktion des Bayerischen Rundfunks). Dadurch illustrieren diese Sonderfälle eine bestimmte Facette des Hörbuchs. Im Allgemeinen ist damit aber das Phänomen nicht getroffen und für die Frageform des Buches – also „Was ist“? – wenig gewinnbringend.

r:k:m: Die Grundfrage will das Phänomen vor allem in seinem gegenwärtigen Zustand ergründen: Inwieweit bildet das Genre Hörbuch den medialen Wandel ab?

Claas Morgenroth: Hauptthese des Buches ist: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich zunehmend auch als akustische Kultur versteht. Die Form der Beschallung hat erheblich zugenommen, öffentlich wie privat. Dabei ist es durch die neue Medialität möglich, dass im öffentlichen Raum etwas ungemein Privates stattfinden kann: Wer wie ich morgens mit der S-Bahn zur Uni fährt, sieht, was private Kommunikation oder auch private Sinnlichkeit heißen kann, wenn alle ihre Kopfhörer aufhaben – unabhängig davon, ob sie ein Hörbuch oder Musik konsumieren.

r:k:m: Was nehmen Sie aus der Lektüre des Sammelbandes mit?

Claas Morgenroth: Mein Fazit lautet, dass es sich lohnt, über das Hörbuch nachzudenken, weil es sehr viel darüber verrät, in welcher Gegenwart wir leben. Einige Aufsätze zeigen durchaus, welche Möglichkeiten bestehen, das Hörbuch als ein Zeichen unserer Zeit zu verstehen. Anderes irritiert, insbesondere der Wunsch nach akademischer Selbstrechtfertigung, zu glauben, es müsse einen wissenschaftlichen Diskurs zum Hörbuch geben, weil die Hörbuchforschung ein Desiderat sei. Diese Rechtfertigung prägt relativ viele Aufsätze des Bandes. Außerdem sind einige Analysen primär werkorientiert. Hier lässt sich der mangelnde Mut kritisieren, die Untersuchungen von Inhalten zu lösen. Was diesem Buch fehlt, ist die ökonomische Perspektive. Die Produktion von Hörbüchern wird zwar gestreift, findet in den Analysen aber nicht statt.

Das Gespräch führte Martin Gehr (r:k:m).

Links:

Über das BuchStephanie Bung, Jenny Schödl (Hrsg.): Phänomen Hörbuch. Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel. Bielefeld [transcript] 2016, 228 Seiten, 29,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseStephanie Bung, Jenny Schrödl (Hrsg.):
Phänomen Hörbuch. von Morgenroth, Claas in rezensionen:kommunikation:medien, 17. Mai 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20163
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