Terry Eagleton: Literatur lesen. Eine Einladung

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Rezensiert von Stefan Schenk-Haupt

Einzelrezension
Terry Eagleton, Professor für Anglistik an der Lancaster University, ist hierzulande vor allem Literaturstudenten ein Begriff, die sich mit seiner streitbaren Definition von Literatur aus seiner Literary Theory: An Introduction (1983) auseinanderzusetzen hatten. Unter seinen Publikationen ist das kulturtheoretisch ausgerichtete Buch Ideology: An Introduction (1991, aktualisiert 2007) sowie die frühe Studie Myths of Power: A Marxist Study of the Brontës (1975) hervorzuheben. Literatur lesen ist ein gänzlich anders gearteter Beitrag, der 2016 erstmals ins Deutsche übersetzt wurde und bei Reclam erschienen ist.

Eagleton will „Lesern und Studenten der Literaturwissenschaft die grundlegenden Werkzeuge der Literaturkritik an die Hand“ geben (S. 7). Ihm reicht es nicht aus, wenn lediglich über Handlungsverläufe oder das Verhalten von Figuren nach realistischen Prämissen, d.h. nur über inhaltliche Entwicklungen von Texten, gesprochen wird. Ihm geht es darum zu erläutern, wie Texte gemacht werden und wie sie darin die Aussageweise lenken, mithin, welche Bedeutung den dargestellten Inhalten schon innertextuell zugewiesen wird.

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert: Drei inhaltlich konzentrierte Kapitel befassen sich mit Figurendarstellung, Erzählsituationen und Interpretationsweisen. Diese werden von zwei sehr lose strukturierten Teilen gerahmt: einleitend zur Bedeutungshaftigkeit und zum Reichtum an Lesarten von Eröffnungssätzen in Erzählwerken, Dramen und Gedichten, abschließend zum leidigen Problem der Wertung von Literatur nach Maßgabe ihrer ‚Qualität‘. Aber auch grundsätzliche Fragen, etwa danach, was Literatur ausmacht und wie literarische Elemente für bestimmte Wirkungen abgezweckt sind, kommen zur Sprache. Beispielsweise beginnt Eagleton das zweite Kapitel damit, die ontologische Differenz zwischen realen Personen und erfundenen Charakteren herauszustellen (S. 59-63).

Eagletons Einladung ist kein wissenschaftliches Buch im strengen Sinn. Der Autor verzichtet auf jedwede Systematik nach Gattungen, historischen Abschnitten oder poetologischen Techniken. Es gibt keine Fußnoten und keine Verweise auf wissenschaftliche Sekundärwerke. Letzteres heißt keinesfalls, dass plagiiert oder lax mit Quellen umgegangen wird. Eagleton pflegt hier schlicht einen anderen Stil als die akademische Darstellungsweise.

So liest sich das erste Kapitel wie eine Zusammenstellung aus Seminarnotizen und Erkenntnissen aus Einführungsveranstaltungen in die Literaturwissenschaft. Eagleton hangelt sich von einem Text zum nächsten und stellt diejenigen Erkenntnisse heraus, welche er mit seinen Lesern teilen möchte. Dabei steht der Materialfülle von Geoffrey Chaucer und William Shakespeare bis James Joyce, Virginia Woolf und Joanne K. Rowling sowie dem Anspruch des textnahen Lesens (close reading) der unbedingte Wille zur angenehmen Lesbarkeit der eigenen Darstellung gegenüber. Generell wird im angelsächsischen Kulturraum weitaus mehr Gewicht auf die Attraktivität der Lektüre von Sachbüchern (readability) gelegt. Akademische Gelehrtheit (erudition) ist stilistisch verpönt. Eagletons How to Read Literature hat damit – in der Originalausgabe – im englischsprachigen Kulturraum seinen festen Sitz als Beitrag zum literary criticism und dessen Einübung. Die Bemühtheit seines Humors in Form überzogen-alberner Vergleiche sowie die stellenweise Unzulänglichkeit der deutschen Übersetzung stellen zwar ein Manko dar. Aber der Anspruch in Bezug auf die minutiöse Interpretation auch von Textdetails erhebt seine Darstellung weit über literarischen Journalismus oder gar Feuilletonismus.

Das Buch richtet sich eigenen Aussagen gemäß an „Anfänger“ (S. 7), also wohl bereits belesene Menschen, die an Literatur grundsätzlich sehr interessiert sind, jedoch (noch) nicht über das Handwerkszeug verfügen, um über den Plot bzw. die Aussagen eines Gedichtes hinaus einen vernünftigen Diskurs über die Texte zu führen. Diesem Leser fehlt noch das Gespür für die ‚Gemachtheit‘ von Texten, für die Formen und Nuancierungen etwa durch Ironie, Unzuverlässigkeit, Sympathielenkung durch Erzählsituationen und stilistische Feinheiten. Das Buch ist hingegen keine Abhandlung über den ‚Akt des Lesens‘, wie ihn Wolfgang Iser (1976) und Hans-Robert Jauß (1977) aufgearbeitet haben. Die idiosynkratischen Zugangsweisen des Rezipienten stehen für Eagleton gerade nicht zur Debatte. Er möchte auf Bedeutungsschichten von Texten und Zugangsweisen zu einem informierteren Umgang mit Literatur aufmerksam machen. Literatur lesen lässt sich daher als populärwissenschaftliche Aufbereitung von Bedeutungsgehalten und Bedeutungsnuancen einordnen, denen für Eagleton in vielen Diskursen, die über literarische Texte geführt werden, nicht genügend Beachtung zukommt.

Welches Zielpublikum mag der Titel anvisieren? Der Verlag hat bereits erkannt, dass es sich nicht um eine Einführung, etwa in die Literaturwissenschaft, handelt, sondern um eine „Einladung“. In der Tat stehen im deutschsprachigen Raum derart viele akademische Einführungen zur Verfügung, dass diese Veröffentlichung mit ihnen gar nicht konkurrieren will. Für den Studenten kann Literatur lesen allenfalls eine Nebenbei-Lektüre zur Entspannung sein, den Schüler überfordert hingegen die eklektische Aufbereitung und die Fülle des Materials. Bleibt als geeigneter Adressat nurmehr der Literaturliebhaber.

Literatur lesen erinnert ein wenig an die letzten Bücher von Dietrich Schwanitz (u.a. Bildung. Alles was man wissen muß, 1999). Hier wie dort stellt ein Professor emeritus Textbeobachtungen und Interpretationsangebote zusammen, die ihm persönlich als wichtig und eindrücklich erscheinen und die er seinen Schützlingen an die Hand geben will. Eagleton gibt dem Literaturbeflissenen, der sich nichts ernstlich zu beweisen hat, viel Bedenkenswertes und gehaltvolle Gedankennahrung an die Hand.

Den selbst gewählten Anspruch, Lesern und Studierenden das nötige Handwerkszeug zu verschaffen, löst er hingegen nicht ein. Warum benennt Eagleton bestimmte theatralische Situationen, die er beschreibt (etwa S. 24, 27), nicht mit dem Begriff der dramatischen Ironie? Stattdessen behauptet er, der Dramatiker, hier Shakespeare, erlaube sich „einen kleinen Scherz auf Kosten seiner Zuschauer“ (S. 24) – tatsächlich aber geht die Ironie auf Kosten der Figuren. Unklar bleibt auch, warum er stilistische Figuren wie Chiasmus und Paradoxon sowie Erzählsituationen nicht präzise benennt. Gerade die Färbung des Dargestellten durch den Erzähler und Sprecher ist ein immer wieder zur Sprache gebrachter Punkt des Buches. Eagleton verpasst die Gelegenheit, genau jene Werkzeuge zu vermitteln, die Leser von Literatur und Studierende der Literaturwissenschaft gewinnbringend anwenden könnten – ohne dass deren Einsatz schon eine Akademisierung bedeuten würde.

Literatur:

  • Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München [Wilhelm Fink] 1976
  • Jauß, Hans-Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. München [Wilhelm Fink] 1977
  • Schwanitz, Dietrich: Bildung. Alles was man wissen muß. Frankfurt/M. [Eichborn] 1999

Links:

Über das BuchTerry Eagleton: Literatur lesen. Eine Einladung. Stuttgart [Reclam] 2016, 268 Seiten, 24,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseTerry Eagleton: Literatur lesen. Eine Einladung. von Schenk-Haupt, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 28. April 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20006
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