Franziska Kuschel: Schwarzseher, Schwarzhörer und heimliche Leser

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Rezensiert von Hans-Jörg Stiehler

Einzelrezension
Die Führung der DDR betrachtete die Medien weniger als Mittel öffentlicher Kommunikation, sondern – ihr Wirkungspotenzial überschätzend – vor allem als Steuerungs- und Lenkungsinstrument der ,Massen‘. Indem die Medien der Bundesrepublik in der DDR recht freizügig nutzbar waren, hatte der Staat mit dem Fortbestehen eines „gesamtdeutschen Kommunikationsraumes“ (S.  9) ein doppeltes Problem: Es ergab sich die für den Ostblock nahezu einzigartige Situation einer Konkurrenz von alternativen Informations- und Unterhaltungsangeboten (in der Landessprache), die den eigenen Medien Nutzer abspenstig machten und sie mit konkurrierenden Weltdeutungen und Freizeitvergnügungen versorgten. Da dieser Konkurrenz zugleich eine erhebliche Wirkmächtigkeit und die Intention der ,Störung‘ der DDR unterstellt wurde, wurden zusätzliche Maßnahmen für unumgänglich gehalten, den Einfluss der Westmedien zu entkräften.

Die Publikation von Franziska Kuschel, eine am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam entstandene Dissertation, fragt daher, „mit welchen Strategien einerseits der Staat den Medienkonsum zu kontrollieren, zu verhindern oder zumindest einzudämmen versuchte, und andererseits, mit welchen Strategien die Mediennutzer dem staatlichen Druck begegneten und versuchten, ihre Interessen durchzusetzen“ (S. 10). Die Arbeit entwirft entsprechend dieser Zielstellung ein breit angelegtes Panorama der (auf die Medien bezogenen) Wechselbeziehungen zwischen Staat und Individuen. Dem Eigen-Sinn der Mediennutzer spricht die Autorin dabei eine zentrale Funktion zu. Sie konterkarieren und unterminieren im Alltag die staatlichen Strategien bis hin zu den 1980er Jahren, in denen die Nutzung der bundesdeutschen Medien in den Alltag der Bevölkerung eingegangen war und in denen sich die Mediennutzer neue Handlungsräume erschlossen.

Die Untersuchung, die in der Reihe Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert des Wallstein Verlags erschienen ist, hat einen zweifachen Anspruch: Zum einen will sie den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR abdecken und damit über Arbeiten hinausgehen, die nur einzelne Zeiträume oder Regionen betrachtet haben, z. B. die vom Westfernsehen lange ausgeschlossenen Gebiete um Dresden. Dies führt zu einer Gliederung mit drei großen Abschnitten der Jahre 1949-1961 (Der Krieg um die Köpfe), 1961-1971 (Der Kampf gegen die geistigen ‚Grenzgänger‘) und 1971-1989 (Resignation und Kapitulation). Die jeweiligen historischen Konstellationen und spezifischen Mediensituationen liefern hierfür die Kontexte. Zum anderen möchte Kuschel die ganze Breite und Differenziertheit der Strategien beider Seiten in den Blickpunkt nehmen und dokumentieren. Auf der Seite des Staates sind dies u.a. technische Mittel („Störsender“), administrative Akte (wie die nur kurzzeitig bestehende Genehmigungspflicht für Satellitenanlagen), juristische Repression (vor allem in den 1950er und 1960er Jahren) und medienerzieherische Versuche und Grenzkontrollen (insbesondere für Printprodukte). Die Seite der Bürger verdeutlicht die Arbeit durch vielfältige Aktivitäten der Mediennutzer (wie Antennenbasteleien, Schmuggel und den Austausch von Büchern und Zeitschriften). Damit unterliefen sie die staatlichen Maßnahmen, was im Ergebnis zu einer stillschweigenden Duldung und zum Verzicht auf Lenkungsversuche seitens des Staates führte.

Um diesen beiden Ansprüchen gerecht zu werden, hat die Autorin ein immenses Pensum an Dokumentenanalysen auf sich genommen. Die untersuchten Quellen reichen von den Akten der Partei- und Staatsführung sowie der einschlägigen Ministerien bis zu Überlieferungen auf regionaler Ebene. Man darf der Arbeit bescheinigen, dass ihre Ambitionen auf sehr beachtliche Weise eingelöst werden. Durch kluge Auswahl der Schwerpunkte in den drei Untersuchungszeiträumen und die breite, durchdachte Verarbeitung des erhobenen Materials ist ein beeindruckend plastisches Bild von „Aushandlungsprozessen“ entstanden, „in denen es Mediennutzern nicht verborgen blieb, dass sie zahlreiche Erfolge erzielten“ (S. 307).

Nur bedingt eingelöst wird von der Publikation, einen Beitrag zur „größeren Fragestellung nach den Auswirkungen von Medialisierungsprozessen“ (S. 11) zu leisten. Das entsprechende begriffliche und methodische Inventar wird hier nur ansatzweise entwickelt. Zudem scheint das untersuchte Problem dafür etwas zu ,klein‘. Die Nutzung der Westmedien ist zwar ein zentrales Moment der Mediengeschichte der DDR, in ihren Auswirkungen aber nur im Zusammenhang mit der in den eigenen Medien praktizierten (Nicht-) Kommunikation zwischen Staat und Bevölkerung zu verstehen. Das schmälert den Wert der Arbeit allerdings nur geringfügig. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zu einer Kommunikations- und Mediengeschichte der DDR und dies vor allem aufgrund ihres differenzierten Herangehens und ihres Problem- und Materialreichtums.

Links:

Über das BuchFranziska Kuschel: Schwarzseher, Schwarzhörer und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien. Göttingen [Wallstein] 2016, 336 Seiten, 34,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseFranziska Kuschel: Schwarzseher, Schwarzhörer und heimliche Leser. von Stiehler, Hans-Jög in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Januar 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19756
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