Dirk Schart, Nathaly Tschanz: Augmented Reality

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Helmut Ebert

Augmented RealityEinzelrezension
Dirk Schart und Nathaly Tschanz haben nach eigener Aussage “das erste Buch über Augmented Reality für Marketing, Medien und Public Relations“ (12) geschrieben. Das setzt Mut voraus und muss gewürdigt werden, denn die Materie ist in technischer wie kommunikativer Hinsicht mehr als komplex. Das Ziel der Autoren ist es “die Grundlagen für ein besseres Verständnis“ von Augmented Reality (AR) zu schaffen und eine “Übersicht der wichtigsten AR-Cases“ (12) zu bieten.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird das Thema zunächst in sechs Kapiteln entfaltet: Was ist AR? Wie funktioniert AR? Warum profitieren digitale Kommunikation und Mobile Marketing von AR? Wie kann AR bestehende Kommunikations- und Marketinginstrumente erweitern? Was macht eine erfolgreiche AR-Anwendung aus? Praxiswissen: Von der Idee zur AR-App. Kapitel 7 ist ein Ausblick. Das achte Kapitel bietet Serviceinformationen in Form von Checklisten und Hinweisen auf Blogs und Portale. Die Inhalte des Buches werden um AR-Inhalte erweitert, die der Leser selbst abrufen kann, eine so praktische wie innovative und zum Thema zwingend passende Idee. Ausführliche Literaturhinweise laden zur Vertiefung des Stoffes ein.

Der Rezensent muss zugeben, dass es nicht ganz einfach war, die aufgestellten Zweck- und Nutzenbehauptungen über AR vollständig zu erfassen und diese an den Fallbeispielen zu überprüfen. Zu diesem Zweck musste er mehrfach hin- und herblättern und große Sorgfalt darauf verwenden, die jeweils unterschiedlichen sprachlogischen Ebenen auseinanderzuhalten. Er hofft, keinen wesentlichen Zweck und Nutzen übersehen zu haben:

  • Darstellung und Visualisierung komplexer Sachverhalte (Zweck),
  • Interaktion mit virtuellen Objekten (Zweck),
  • Werkzeug für crossmediale und integrierte Kommunikation (Zweck);
  • bessere Verstehens- und Behaltensleistung (Nutzenvorteil oder Wirkungsbehauptung),
  • Aufbau einer stärkeren Bindung zwischen Anwender und Unternehmen, Marke oder Produkt (Nutzenvorteil oder Wirkungsbehauptung),
  • Schaffung von Aufmerksamkeit, Aktivierung (Involvement) und Erlebnisorientierung (Wirkungsvoraussetzung).

Besonders die Fallbeispiele erweisen sich als nützlich, um eine Anschauung von AR-Anwendungen zu bekommen. Sehr interessant sind die Ausführungen zu den Erfolgsbedingungen von AR-Anwendungen (Kap. 5): Akzeptanz, Relevanz, Informationsgehalt, Erlebnisfaktor und Usability (vgl. 141). Die Kategorie “Erlebnisfaktor“ ist offensichtlich Wirkungs- und Erfolgsvoraussetzung zugleich (s.o.). Texte müssen allerdings klar zu erkennen geben, was ihr Zweck ist, was ihr Thema ist und um welchen Sinnzusammenhang es geht. An diesen Standards gemessen, weisen das Geleitwort, das Vorwort und die “Praxisimpuls“ genannten Teiltexte einige Verstehensschwierigkeiten auf.

Ein Geleitwort soll leiten, aber das Leitwort des Praxishandbuches ist mehr ein Lagebericht, der die Geduld des Lesers strapaziert. Das Vorwort ist eigentlich ein Wort vor dem Wort, aber es hat eher den Charakter eines Essays. Die Praxisimpulse sollen anregen, die Praxis zu verbessern, aber sie enthalten zu viele Wertungen und unbegründete Behauptungen. Die Fallbeschreibungen sind tatsächlich Fallbeschreibungen, aber das durchgehende ‘Hohe Lied’ auf die Nutzenvorteile von AR-Anwendungen ermüdet den Leser, weil er die Nutzenbehauptungen nicht selbst überprüfen kann.

Leider enthält das Buch trotz Lektorat zahlreiche Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit und die stilistische Angemessenheit: Von Kunden heißt es, dass sie ohne AR-Erlebnis “keinen Edel-Juwelier betreten würden“ (78). Man kann Juweliergeschäfte betreten, aber keine Juweliere. Oder: “Noch ein Vorteil: Man hat die Hände frei, was beispielsweise bei interaktiven Anleitungen oder im Tourismus ein Argument ist“ (110). Die Begriffe “Anleitungen“ und “Tourismus“ sind auf ganz unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt, weshalb ein Leser den Gedanken nicht nachvollziehen kann. In der Abbildung auf Seite 126 (Abb. 48) wird das sogenannte Flow-Erleben in der Mitte zwischen “Überforderung“ und “Langeweile“ angesiedelt. Folgerichtig aber wäre es, den Begriff “Langeweile“ durch “Unterforderung“ zu ersetzen, denn Überforderung führt zu Resignation, Unterforderung zu Langeweile. Die Begriffe “Überforderung“ und “Langeweile“ gehören also nicht zur selben logischen Ebene, weshalb die Abbildung 48 weder korrekt noch auf den ersten Blick verständlich ist. Grammatisch unkorrekt sind Sätze wie “Andererseits wird mittlerweile aber auch in Unternehmen selbst entwickelt oder zumindest Teile davon vorbereitet“ (119). Das Hilfsverb “wird“ kann hier nicht auf das pluralische Subjekt “Teile“ bezogen werden, und die Proform “davon“ verweist ins Leere, weshalb nicht verstanden werden kann, was verstanden werden soll.

Die theoretischen Probleme des Praxishandbuches betreffen die Begriffe, die Kommunikationsmodelle sowie die vielen nur fragmentarischen Erklärungen von Wirkungszusammenhängen. Viele Begriffe bleiben unterbestimmt. Dazu gehören beispielsweise die Begriffe “Relevanz“, “Bindung“, “Aufmerksamkeit“, “Kommunikation“, “Medien“ und “Public Relations“. Unter “Kommunikation“ wird in erster Linie die medial vermittelte Informationsverarbeitung verstanden, kurz: das Lesen eines Buches oder das Rezipieren einer visuellen Inszenierung mittels AR-Anwendung. Dialogische Kommunikation bleibt also ausgeklammert, obwohl es spannend wäre zu erfahren, wie AR-Anwendungen Dialoge bereichern können, und was sie abseits von der Erlebnisqualität für das Verstehen von Sachverhalten beitragen können.

Fraglich ist, wie groß der Erkenntnisgewinn für den Leser ist, wenn nur Stichworte oder Fragmente von Theorien herangezogen werden und wenn die Auswahl der Theorien sich an nur einer Disziplin – hier am Marketing – orientieren, obwohl weit mehr Theorien zur Begründung von AR-Wirkungen in Betracht kommen. So wird beispielsweise das hochinteressante Phänomen der Aufmerksamkeit nur aus der Perspektive einer Aufmerksamkeit, die fesselt, behandelt, nicht jedoch aus einer Perspektive, die (den Kunden) trägt und hält.

Das für die Erklärung von Kommunikation vollkommen ungeeignete informationstechnische Sender-Empfänger-Modell wird kurzerhand in ein Modell verwandelt, das angeblich geeignet ist, Kommunikationsprozesse zu erklären (vgl. 58). Die theoretischen Versatzstücke stammen aus diversen Wahrnehmungs- und neurowissenschaftlichen Theorien. Die vermuteten positiven Wirkungen werden dabei in der Regel nur mit Topoi begründet: AR spricht alle Sinne an. Multisensorische Ansprache erhöht Aufmerksamkeit und Involvement. Aufmerksamkeit und Involvement bewirken Spaß. Spaß führt zu Bindung. Bindung führt zum Kaufentscheid. Wenn es so einfach wäre! Freilich ist der Rezensent bereit zuzugeben, dass Marketingexperten, die ihre Grundannahmen reflektieren würden, aufhören würden zu funktionieren.

Die Erörterungen des Praxishandbuches beziehen sich auf ein bestimmtes Modell von Kommunikation, und zwar auf die einseitige medial vermittelte Rezeption von “Texten“ im weitesten Sinne, nicht so sehr auf Face-to-face-Kommunikation. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung und Potentialanalyse von AR-Anwendungen als gehobene Visualisierungstechnik, wie sie aktuell aus überwiegend marketingorientierter Sicht gedacht wird. Es stellt sich dabei dann auch die spannende Frage, wie eine akkustische Augmented Reality beschaffen sein müsste, um die Kommunikationsziele von Marketingabteilungen, Medien- und PR-Schaffenden zu erreichen.

Das Nachdenken über AR-Anwendungen ist stark bezogen auf Erlebnisorientierung, Unterhaltung und Interaktivität, was immer das sein soll – vielleicht Spiele statt Brot. Es ist aber weniger bezogen auf die zentralen Prozesse des Verstehens selbst. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Wenn in Medizin und Luftfahrt AR-Anwendungen in der Lage sind, das schwierige Geschäft des Verstehens zu erleichtern, warum beschränken sich AR-Anwendungen in Marketing, Medien und PR dann auf Erlebnisorientierung und Infotainment statt auf Innovation und gesellschaftliches Lernen? Diese Frage ist nicht Kritik am Praxishandbuch, sondern Resultat der kreativen Impulse, die das Praxishandbuch freisetzt, weshalb der Rezensent das Buch zur Lektüre empfiehlt.

Links:

Über das BuchDirk Schart, Nathalie Tschanz: Augmented Reality. Praxishandbuch für Marketing, Medien und Public Relations. Konstanz [UVK] 2015, 190 Seiten, 29,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseDirk Schart, Nathaly Tschanz: Augmented Reality. von Ebert, Helmut in rezensionen:kommunikation:medien, 28. April 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/19099
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