Sebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge

Einzelrezension
4289 Aufrufe

Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Die Verbundenheit der DingeEinzelrezension
Spätestens mit den Internet und den sozialen Netzwerken ist Netz zu einem selbstverständlichen, ja trivialen Schlagwort des Alltags geworden: Alle benutzen es, keine/r weiß so recht, was es bedeutet. Können da Blicke in die Kulturgeschichte und begriffliche Rekonstruktionen Klärungen, mindestens Impressionen sowohl in ihre Materialität bzw. “Objektreferenz“ (8) als auch in ihre epistemischen, symbolischen und theoretischen Konstruktionen, durch “wissenshistorische, medientheoretische und bildwissenschaftliche Zugänge“ (10) weiterhelfen?

Diese umfangreiche, ungemein detaillierte (überarbeitetete) Dissertation, im Mai 2012 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht, führt dafür eindrucksvolle, unerwartete Belege an. Sie entwirft dafür den großen Bogen durch die Menschheitsgeschichte: von Fangnetzen, Geweben und den “Artefakten der Spinne“ (12), von Mythen, Symbolen und Materialitäten in den alten Hochkulturen Mesopotamiens, Indiens, Israels und Griechenlands bis hin zu den modernen Informations- und Kommunikationsnetzwerken und dem Aufkommen von Netzwerkgesellschaften, wie sie etwa Manuel Castells beschrieben hat.

Dazwischen werden verschiedene Beschreibungssprachen der Netzwerke in einem so genannten Netzwerkarchiv erörtert, es werden – nun schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts – Kanalsysteme von Flüssen, in Städten und auf dem Land und ihre kartegraphische Erschließung betrachtet, es folgen für das Ende des Jahrhunderts technische Vermittlungen mittels Telefon, visuelle Modelle der Naturwissenschaften und soziometrische Konstrukte in den Gesellschaftswissenschaften, verkehrliche und logistische Problementwürfe in den Großstädten der 1930er Jahre, noch allgemeiner: Netzwerkprojekte als methodische und operative Konzepte  und von Managementstrategien, sodann Netzwerkprotokolle als Architekturen von Sprache, Schrift und Computer und endlich – beispielhaft – Netzwerkdiagramme als wirtschaftliche Verflechtungen und sogar “Mediologien der Verschwörung“ (381ff). Denn grundsätzlich angenommen wird als materielle Komponente die titelgebende “Verbundenheit der Dinge“, die sich in Netzwerkkonstrukten symbolisiert und versprachlicht, wie auch Netzwerk-Konzepte als “hybride Überlagerungen von künstlichen und materiellen Räumen“ (14), als “wesentlich heterogene, interkonnektive und unscharfe Quasi-Objekte“ (15), die die Begriffs- und Wissensgeschichte und Theoriekonstruktionen bestreiten. Soweit der erklärte theoretische Ansatz dieser Arbeit.

Ob dieser Ansatz mit oder trotz des enormen Aufwandes der Quellen-Recherche und -rekonstruktionen einigermaßen nachvollziehbar und plausibel eingelöst wird, ob sich diese Materialhuberei über ihre evidente Eindrücklichkeit und löblichen Abweichungen von Erwartbarem hinaus als neuerliche oder mindestens weiterführende Erkenntnisse gelohnt haben, steht freilich auf einem anderen Blatt. Sie steht und fällt bereits mit der Auswahl, die der Autor eingangs damit begründet, dass er zum einen für die materielle Kultur “spezifische Fälle“ soziotechnischer Netzwerke ausgewählt habe, wie er zum anderen für die “Bildgeschichte des Netzwerksdiagramms weitestgehend Gründungsszenen, Umschlagpunkte und epistemologisch wie ästhetisch prägende Beispiele“ (10) einbezieht.

Diese Einschätzung lässt sich für etliche Beispiele nachvollziehen, für andere nicht, zumal wenn sie sehr weitschweifend, detailliert und mit vielen Grafiken dargelegt werden und sich der rote Faden häufig verliert. Immer noch sind sie als gefundene, singuläre Exempel bemerkenswert, aber ihre Zusammenhänge und vor allem erkenntnismäßige Paradigmatik erschließen sich auch dem geduldigen Leser nicht immer. Es bleibt vielfach beim trivialen Déjà-vu, dass alles irgendwie zusammenhängt und folglich als Netzwerk ausgelegt werden kann. Dabei könnte eine begriffliche und systematische Zusammenschau von materiellen Netzen, technischen Netzwerken und theoretischen Netzwerk-Theorien hochinteressant sein, und sicherlich finden sich in diesem voluminösen Werk dafür viele Anknüpfungspunkte und Anregungsmomente. Am Ende spricht der Autor selbst von hier entfalteten “Netzwerkgeschichten“ (421; 426), denen eine gewisse vage Narrativität und auch Beliebigkeit eigen bleiben. Denn ein “Quasi-Objekt“ wie das Netzwerk beziehe seine “kulturtechnische Wirksamkeit“ und “Welthaltigkeit“ aus “Verabredungen, Erzählungen und Verträgen“, nicht allein aus der “Verbundenheit der Dinge“ (434). Darin reflektiert sich noch einmal die ganz andere, vielleicht sogar vornehmlich metaphorische Sicht auf Netze, die kaum mit der heute dominierenden technischen und kommerziellen Perspektive zumal auf die digitalen Netze zu vereinbaren ist.

Links:

Über das BuchSebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Reihe: Kaleidogramme, Bd. 114. Berlin [Kulturverlag Kadmos] 2014, 500 Seiten, 29,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseSebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 8. Oktober 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18571
Getagged mit: , , ,
Veröffentlicht unter Einzelrezension