Gottfried Boehm; Horst Bredekamp (Hrsg.): Ikonologie der Gegenwart

Einzelrezension
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Rezensiert von Silvia Seja

Einzelrezension
Der von Gottfried Boehm und Horst Bredekamp herausgegebene Band Ikonologie der Gegenwart basiert auf einer Vorlesungsreihe, die zwischen 2002 und 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin abgehalten wurde. Die Umschlagseite des Buches zeigt ein verlassenes Freilichtkino, dessen leere Kinoleinwand darauf zu warten scheint, durch ein Kaleidoskop von bunten Bildern belebt zu werden – etwa durch die einzelnen Beiträge des Buches. Die acht Aufsätze verfolgen das Ziel, aus jeweils unterschiedlicher Perspektive den Gedanken zu beleuchten, dass der bereits vor einigen Jahren ausgerufene iconic turn dazu geführt hat, dass Bilder nicht mehr nur als Abbildungsinstrumente fungieren, sondern ‘aktiv’ in vielfältigen Zusammenhängen verwendet werden. Im Geiste der auf Panofsky zurückgehenden Methode der Ikonologie werden Alltagsbilder, Kinobilder, Videobilder, Kunstbilder, Sprachbilder oder Gedankenbilder hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung diskutiert. Die Beiträge befinden sich somit “auf der Grenze zwischen Gegenwartsbezug und Archiv” (7), also auf der Schwelle zwischen aktueller Lebenspraxis und Vergangenheit.

Die kulturellen Wurzeln der Bildebatte werden gleich im ersten Beitrag “Zu einer Ikonologie der Kulturen. Die Perspektive als Bilderfrage” des Kunsthistorikers Hans Belting aufgegriffen. In Auseinandersetzung mit Panofsky argumentiert Belting, dass Perspektive nicht nur ein Mittel sei, Raum darzustellen, sondern eine umfassendere Kulturtechnik, die den Blick des Betrachters als solchen thematisiere: “Der ikonische Blick, den die Perspektive erzeugt, ist […] ein zum Bild gewordener Blick“ (9). Die Perspektive gilt für Belting daher als eine symbolische Form im Sinne Cassirers, in der sich nichts weniger als “die Kultur der Neuzeit ausdrückt” (10) – sie ist die Maske, durch die wir die Welt sehen und in Bildern festhalten.

Um den kulturellen Nutzen des Denkverfahrens der Analogie geht es im Beitrag “Das Bild als Mitte: Analogie als Medientheorie” der Kunsthistorikerin Barbara Stafford. Ihrer Hauptthese zufolge ist das analogische Denken im Gegensatz zum Denkverfahren der Allegorie “fundamental visuell” (29), weil darin ein “Bild” gesucht werde, das man “in die Mitte setzen kann” (ebd.). Kunsthistorisches Paradigma für diese besondere Art von Medium sei das Spiegelkabinett. Da analogisches Denken darauf ziele, Ähnlichkeit in der Verschiedenheit herauszustellen, ließe sich mit dem Medium Spiegel nicht nur der Leibnizsche Gedanke einlösen, dass die Vervielfältigung des Ähnlichen Unterschiede erzeugt und umgekehrt, sondern der Spiegel habe als spezifisches Analogiemittel auch die Funktion, Geschichte visuell darzustellen.

Die Möglichkeiten und Grenzen von Großausstellungen in der globalisierten Gegenwart erforscht der Beitrag “Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form” des ehemaligen Documenta-Leiters Okwui Enwezor. Der Trend zu Großausstellungen verdeutliche “ein bestimmtes Denken über zeitgenössische Kunst und die Globalisierung” (43). Enwezor zufolge inszenieren Großausstellungen Kunst als Spektakel, haben allerdings zugleich das Potenzial, den zumeist passiven Zuschauer in einen Agenten zu verwandeln, der zur grenzüberschreitenden “Verbreitung und Rezeption der visuellen Kultur unserer Gegenwart” (64) beiträgt, indem dieser die Möglichkeit erhält, aktiv an unterschiedlichen ästhetischen Experimentalkulturen teilzunehmen.

Nicht um eine kulturelle Aufwertung, sondern um die “Zumutung” (69) eines riskanten “ikonographischen Diskurses” (ebd.) geht es im Beitrag “Lassen sich philosophische Gedanken visualisieren? Ein Versuch zur Frage: Wie kommt das Böse in die Welt?” des Philosophen Wolfram Hogrebe. Ausgangspunkt für diesen Versuch ist Schellings These, dass “das Göttliche nur ineins mit dem Widergöttlichen” (ebd.) gedacht werden könne, das Gute gewissermaßen die Voraussetzung des Bösen sei. Den komplizierten Gedankengang Schellings will Hogrebe anhand einer Zeichnung Michelangelos verdeutlichen, die den gekreuzigten Christus darstellt und ein pikantes Detail enthält: Man sieht, dass Zeigefinger und kleiner Finger der rechten Hand wie bei der so genannten Corna-Geste ausgestreckt sind. Michelangelo erschafft laut Hogrebe hiermit einen Christus, der mit Gott abrechne, weil dieser ihn nicht vor dem Kreuzestod gerettet habe, und zeige dadurch auf visuelle Weise, wie das Böse – als Kehrseite des Guten – in die Welt komme.

Vom Bösen im Bild zum Glauben ans Bild kann man mit Karl Kardinal Lehmanns Beitrag “Das Bild zwischen Glauben und Sehen” gelangen, in dem für eine Annäherung von Kirche und Bildwissenschaft plädiert wird. Sehen und Glauben seien bei der Erfassung von Bildern voneinander unablösbar, Bilder etwas anderes als ein “stummes oder bloß illustriertes Wort” (91). Um das Bildpotenzial adäquat zu erfassen, müsse daher ein spezifisches Sehen zum Einsatz kommen, “ein vieldimensionales, schöpferisches Sehen, in das eben auch so etwas wie Glaube eingegangen ist” (92) und das auf alle Arten von Bildern – insbesondere nicht-gegenständliche – anzuwenden sei.

Um den Horror vor dem Bild der Zukunft geht es im Beitrag “Bildwissenschaft” des Literaturwissenschaftlers und Kunsthistorikers William J. T. Mitchell, welcher eine Wissenschaft vorschlägt, in der Bilder Selbstzweck, statt bloße Mittel zu Zwecken sind. Mitchell charakterisiert das Bild als ein “doppeltes Zeichen”, das sowohl etwas “benennt” als auch “eine Relation zu etwas” herstellt (105). Diese Bestimmung sei konstitutiv für die “Diagrammatologie” (103), “Physik” (106) und “Biologie” (109) der Bilder sowie das Verhältnis von Bildern zu Fossil und Klon, wobei die anvisierte Bildwissenschaft beim Konzept des Klons an Grenzen gerate: Während ein Fossil das versteinerte Bild einer vergangenen Lebensform sei, stellten Klone – wozu Mitchell auch digitale Bilder zählt – “Abbilder ohne Urbilder” (112) dar. Obwohl der Klon für die Biologie einen Gattungsendpunkt markiere, würde das digitale Bild für die Bildwissenschaft eine Versöhnung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften ermöglichen.

Für den Filmemacher Peter Greenaway ist die Digitalisierung filmtechnisch ebenfalls mehr Segen als Gefahr, wie aus dem von Ulf Jensen aufgezeichneten Gespräch “Breaking the Frame. Peter Greenaways Thyssen-Vorlesung zur Ikonologie der Gegenwart an der Humboldt-Universität zu Berlin, Februar 2007” zwischen Regisseur und Publikum hervorgeht. Greenaways Traum ist es, Filme wie Leinwände zu behandeln, auf denen experimentiert wird, und dies sei nur durch die Digitalisierung des Kinos möglich: “Ich möchte ein Kino machen, das jedes Mal, wenn man es sieht, anders ist. […] Ein nicht erzählendes, gegenwärtiges, nicht wiederholbares Kino” (122). Dieses Kino ähnele Videospielen, die jedes Mal anders gespielt würden und deren Ergebnis unvorhersehbar sei. Darin, so betont Greenaway, sei das Ideal einer filmischen “absoluten Gegenwart” (ebd.) zu sehen.

Der Abschlussbeitrag “Strategien gegen die Indifferenz. Vier Beispiele heutiger ästhetischer Produktion” des Museumsdirektors Armin Zweite setzt bei dem Befund an, dass gegenwärtige Kunstpraxis indifferent gegenüber dem Anspruch sei, alternative Sichtweisen zur Lebenspraxis zu liefern. Ausnahmen fänden sich bei Hans Haacke, Paul McCarthy, Bill Viola und Olafur Eliasson: “Bei den hier vorgestellten Protagonisten handelt es sich […] um Bilderproduzenten, die auf hohem ästhetischem Niveau ein überindividuelles Anliegen verfolgen” (175). Denn diese Arbeiten entwickelten aufgrund ihrer Selbstreflexivität nicht nur Strategien gegen die Indifferenz, sondern bewirkten ebenfalls, dass sich der Betrachter ihnen gegenüber nicht indifferent verhalten könne, was Voraussetzung für “das Überleben der Werke in zukünftiger Vergangenheit” (ebd.) sei.

Die Beiträge zur Ikonologie der Gegenwart zeigen auf facettenreiche und teilweise unerwartete Weise, welche verschiedenartigen kulturellen Aspekte am iconic turn beteiligt sind. Indem renommierte Vertreter verschiedenster Fächer in diesem Buch zusammengebracht werden, wird die Absicht der Herausgeber umgesetzt, dem iconic turn diskursiv adäquat zu begegnen – sowie eine breite Leserschaft garantiert.

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Über das BuchGottfried Boehm; Horst Bredekamp (Hrsg.): Ikonologie der Gegenwart. München [Wilhelm Fink Verlag] 2009, 179 Seiten, 24,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseGottfried Boehm; Horst Bredekamp (Hrsg.): Ikonologie der Gegenwart. von Seja, Silvia in rezensionen:kommunikation:medien, 10. März 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/1796
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