Marina Deiß: Gnade für Gnadenlose?

Einzelrezension
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Rezensiert von Svea Bräunert

deiß2008Einzelrezension
2007 jährten sich zum dreißigsten Mal die Ereignisse dessen, was als Deutscher Herbst in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar waren als Angehörige der zweiten Generation der Roten Armee Fraktion (RAF) maßgeblich an der Entführung und späteren Ermordung Hanns Martin Schleyers sowie an weiteren terroristischen Taten beteiligt. Seit Ende 1982 sitzen sie in Haft. Rund 24 Jahre später wird in Deutschland kontrovers über ihre Entlassung diskutiert – eine Debatte, die den Eindruck macht, als würden hier alte Grabenkämpfe der siebziger Jahre noch einmal ausgefochten und im Zuge von 9/11 neue Stellvertreterkriege aufgeführt.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Marina Deiß hat in ihrer knapp 100-seitigen Untersuchung Gnade für Gnadenlose? 30 Jahre Deutscher Herbst und die “Begnadigungsdebatte” in den Medien diese Diskussion daraufhin befragt, inwiefern die Massenmedien ihrer Aufgabe nachgekommen sind, sachlich und umfassend über die möglichen Haftentlassungen zu berichten. In Anlehnung an Heribert Schatz und Winfried Schulz entwirft Deiß Untersuchungsparameter journalistischer Qualität, die sich an den Momenten Vielfalt, Ausgewogenheit sowie Neutralität und Sachlichkeit ausrichten (vgl. Schatz/Schulz 1992). Diese bilden die Grundlage für die Codierung und quantitative Inhaltsanalyse jener relevanten Artikel, die zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2007 in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (FAZ) und der “Süddeutschen Zeitung” (SZ) erschienen sind. Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung werden durch Leitfadeninterviews mit dem Juristen Kurt Breucker, dem Journalisten Kurt Oesterle und dem jüngsten Sohn von Hanns Martin Schleyer, Jörg Schleyer, ergänzt. Mohnhaupt und Klar reagierten negativ auf eine Anfrage der Autorin und sind somit nicht mit eigenen Stellungnahmen vertreten.

Der “Methodenmix von quantitativer Inhaltsanalyse und qualitativer Leitfadengespräche” (50) eröffnet einen umfassenden Blick auf die Debatte. Kritisch ist hierbei jedoch anzumerken, dass der größte Teil der westdeutschen Bevölkerung die RAF in den siebziger Jahren über die Massenmedien wahrnahm. Daher wäre es interessant gewesen, auch eine solche Zeitzeugenperspektive einzubeziehen – nicht zuletzt weil sich auf diese Weise Anschlüsse an die Mediensituation der siebziger Jahre hätten herstellen lassen, die mit Heinrich Bölls umstrittenem “Spiegel“-Artikel “Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?” bereits eine frühe ‘Gnadendebatte’ zu verzeichnen und mit Hans Magnus Enzensbergers medienkritischen Essays eine subjektive Überprüfung journalistischer Qualität hervorgebracht hatte (vgl. Balz 2008; Böll 1972; Enzensberger 1997). Ebenso hätte man sich eine größere Bandbreite an untersuchten Zeitungen gewünscht, etwa aus dem für die Diskussionen der sechziger und siebziger Jahre so wichtigen Verlagshaus Springer und der infolge der linken Medienkritik gegründeten “taz” – ganz abgesehen davon, dass die Untersuchung mit Bezeichnungen wie “Baader-Meinhof-Bande” (35) oder “Rädelsführer” (37) immer mal wieder in den antagonistischen Sprachduktus der siebziger Jahre zurückfällt.

Erinnert man sich an die Sendung “Gnade für Gnadenlose?” von Sabine Christiansen am 28. Januar 2007, die der Studie von Deiß ihren Titel gibt und in der 91 Prozent der Zuschauer/innen dagegen votierten, dass Mohnhaupt und Klar “vorzeitig [sic!] freikommen können”, wird deutlich, warum eine Untersuchung der journalistischen Qualität im Hinblick auf die Berichterstattung über den RAF-Terrorismus unbedingt wichtig und zeitgemäß ist. Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu beruhigend an, dass Deiß die journalistische Qualität beider Zeitungen insgesamt als “befriedigend” (92) beurteilt, wenngleich auch FAZ und SZ eine stark emotionale Besetzung des Themas verzeichnen und nicht immer eindeutig zwischen dem juristischen Vorgang der Haftentlassung von Mohnhaupt und dem politischen Akt des Gnadengesuchs von Klar unterscheiden. Obwohl die Untersuchung von Deiß also noch einige Fragen offen lässt – so etwa die nach einer Verortung der RAF-Debatte in den Mediendiskussionen der siebziger Jahre oder einer Analyse der latenten Affektbindungen an aktuelle Terrorismusdiskurse –, leistet sie doch einen lesenswerten Beitrag zur Beurteilung journalistischer Qualität und Beschreibung gegenwärtiger medialer Reaktionsmuster auf den westdeutschen Terrorismus der RAF.

Literatur:

  • Balz, H.: Von Terroristen, Sympathisanten und dem starken Staat. Die öffentliche Debatte über die RAF in den 70er Jahren. Frankfurt am Main [Campus Verlag] 2008.
  • Böll, H.: “Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?” In: Spiegel, 3, 1972, S. 54-57.
  • Enzensberger, H.M.: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit. Herausgegeben von Peter Glotz. München [Verlag Reinhard Fischer] 1997.
  • Schatz, H.; Schulz, W.: “Qualität von Fernsehprogrammen. Kriterien und Methoden zur Beurteilung von Programmqualität im dualen Fernsehsystem.” In: Media Perspektiven, 11, 1992, S. 690-711.

Links:

Über das BuchMarina Deiß: Gnade für Gnadenlose? 30 Jahre Deutscher Herbst und die "Begnadigungsdebatte" in den Medien. Reihe: Medienwissenschaften, Band 3. Marburg [Tectum Verlag] 2008, 132 Seiten, 24,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseMarina Deiß: Gnade für Gnadenlose?. von Bräunert, Svea in rezensionen:kommunikation:medien, 14. August 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/1062
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