Tilmann Sutter: Medienanalyse und Medienkritik

Einzelrezension
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Rezensiert von Christian Rudeloff

Einzelrezension
Tilmann Sutter legt mit dem Band Medienanalyse und Medienkritik eine Zusammenstellung ausgewählter eigener Aufsätze vor, die in den vergangenen Jahren in ganz unterschiedlichen Kontexten geschrieben – und größtenteils auch schon publiziert wurden. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge ist in den vergangenen zehn Jahren entstanden, einige andere bereits in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre. Für die vorliegende Veröffentlichung wurden sie überarbeitet bzw. erweitert. Den kleinsten gemeinsamen Nenner finden die Texte in ihrem Selbstverständnis als genuin mediensoziologische. Sie “verorten sich […] entschieden im vergleichsweise dünn besetzten Gebiet der Mediensoziologie”, so Sutter (7). Damit grenzt der Autor sie explizit von interdisziplinär angelegten Stoßrichtungen in den Medien- und Kommunikationswissenschaften ab, hinter denen sich “eine Schwächung der beteiligten Einzeldisziplinen eingeschlichen haben” (7) könnte. Um dieser vermeintlichen Schwächung entgegenzuwirken, empfiehlt Sutter den diversen Einzeldisziplinen eine zumindest vorübergehende Konzentration auf ihre jeweils spezifischen programmatischen Stärken. Der vorliegende Band soll hierzu einen Beitrag leisten.

Als Alleinstellungsmerkmal der Mediensoziologie definiert Sutter zunächst auf sehr grundsätzlicher Ebene die Ableitung  “reflexionswissenschaftlicher” Ansätze aus “Theorien und Begriffen der allgemeinen Soziologie” (7)  zur Beantwortung medienwissenschaftlicher Fragestellungen. Dieses Basis-Definition wird im Rahmen des ersten Abschnitts Grundlagen einer konstruktivistischen Mediensoziologie entfaltet und spezifiziert in Ausrichtung auf die Theorie sozialer Systeme in der Tradition Niklas Luhmanns, auf die sich Sutter vornehmlich bezieht. Im ersten Kapitel dieses Abschnitts akzentuiert er im Schnelldurchgang die Differenz zwischen einigen zentralen Paradigmen der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Tradition und der systemtheoretisch inspirierten Mediensoziologie. Neben u. a. der empirischen Rezeptionsforschung auf der einen, kommt er dabei auf der anderen Seite auf poststrukturalistische Ansätze, sowie insbesondere auf die Rolle der Kritischen Medientheorie zu sprechen, lässt sich doch in Abgrenzung zu dieser die systemtheoretische Programmatik besonders klar charakterisieren.

Im Unterschied zu den formzentrierten Herangehensweisen, wie Sutter sie etwa in den Texten Adornos, Oevermanns, aber auch Baudrillards entdeckt, betont die systemtheoretisch bzw. konstruktivistische Mediensoziologie, darin den Cultural Studies verwandt, den Freiheitsspielraum der Rezipienten in den Praktiken des Medienkonsums und der Interpretation der angebotenen Medieninhalte. Sie geht in diesem Zusammenhang jedoch gleichsam nicht von autonom entscheidenden Individuen aus, sondern bettet deren Möglichkeitsspielräume in eine Struktur, ein Netz von jeweils vorhergehenden bzw. möglichen sich anschließenden Kommunikationen ein, wie Sutter herausstellt.

Dabei unterscheidet sie im Kern zum einen zwischen Prozessen der Medienkommunikation, individuellen Rezeptionsprozessen und Prozessen der kommunikativen Aneignung der Medieninhalte (vgl. 25), zum anderen differenziert sie zwischen drei verschiedenen Arten von Umweltbeziehungen der Medienkommunikation: Sozialisation, Inklusion und Integration (vgl. 27). Es geht ihr dabei nicht um “ein Entweder-Oder” (27), sondern zunächst einmal um die adäquate Beschreibung des komplexen Wechselverhältnisses zwischen diesen Ebenen mit dem Ziel, die Einseitigkeit der tradierten Perspektiven zu überwinden. Sutter gelingt es mit dieser Herausstellung gleich zu Beginn des Bandes in erhellender Weise darzulegen, worin der spezifische Mehrwert der Rezeption Luhmanns für die medien- und kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung bestehen könnte. An konkreten Fragestellungen erprobt wird diese Perspektive im dritten Abschnitt des Sammelbands.

Zuvor widmet sich Sutter, im zweiten Abschnitt, jedoch zunächst ausführlich der näheren Betrachtung der drei verschiedenen Typen der Umweltbeziehungen der Medienkommunikation. Die Begriffe der Mediensozialisation, Integration und Inklusion werden in jeweils eigenen Kapiteln erläutert und diskutiert. Sutter charakterisiert auch hier klar und in einleuchtender Weise die Spezifik des konstruktivistisch-systemtheroretischen Vokabulars in Abgrenzung zu anderen Theorietraditionen – etwa am Beispiel einer “Selbstsozialisation im Umgang mit Medien” (63), die an die Stelle der weit verbreiteten Vorstellung einer Sozialisation durch Medien tritt. Oder mithilfe der Neuformierung des Integrationsbegriffs. Dieser kann in systemtheoretischer Ausgestaltung eben nicht mehr als normativ aufgeladene Sozialintegration, als die “Einbindung von Personen in die Gesellschaft” (83) verstanden werden. Sondern er beschränkt sich als Systemintegration auf die Beschreibung der Wechselbeziehungen zwischen den diversen Funktionssystemen, darunter das Mediensystem. Zentral für die Ausführungen des zweiten Abschnitts ist der Begriff der strukturellen Kopplung, der schon bei Luhmann eine Schlüsselposition zur Kennzeichnung der Verhältnisse zwischen den Systemen eingenommen hat.

Sutter sichert die Produktivität des bereits bei Luhmann umstrittenen Begriffs für seine Untersuchungen ab, indem er in seiner Rezeption der Theorie Luhmanns die Offenheit der Systeme betont, die zwar operativ geschlossen sind, d. h. nicht auf die Operationen anderer Systeme durchgreifen können, jedoch gleichzeitig auf struktureller Ebene auf wechselseitige Leistungsbeziehungen angewiesen sind, um ihren Fortbestand zu sichern. Dabei verfällt er nicht in unkritische Luhmann-Exegese, sondern geht auf die (unter anderem aus handlungstheoretischer Perspektive kommenden) Kritikpunkte an dessen Theorie durchaus ein und reflektiert diese transparent (91/92).

Der dritte Abschnitt schließlich steht unter der Überschrift Forschungsfelder einer konstruktivistischen Mediensoziologie. In insgesamt zehn verschiedenen Aufsätzen unternimmt Sutter hier den Versuch, das Potenzial der systemtheoretischen Mediensoziologie im Hinblick auf konkrete Forschungsfragen zu veranschaulichen. Neben der Beschäftigung mit dem Begriff der Medienkompetenz kommt dabei der Analyse des Interaktionsbegriffs eine zentrale Rolle zu. Auf kaum einen anderen Begriff wurden in den medien- und kommunikationswissenschaftlichen Diskursen zu den Neuen Medien, aber auch im Mediensystem selbst, größere Euphorien projiziert.

Sutter entzaubert diese Projektionen gezielt – unter anderem mit dem nüchternen Hinweis auf die systemtheoretische Definition des Interaktionsbegriffs, der zunächst nichts anderes meint als Kommunikation unter Anwesenden und sich insofern nur unter Inkaufnahme erheblicher Unschärfen zur Kennzeichnung massenmedialer bzw. virtueller Interaktion nutzen lässt (vgl. 127). Zugleich bezieht er sich in seiner Argumentation auf Ergebnisse empirischer Untersuchungen zu den Nutzungsgewohnheiten im Web 2.0., nach denen eine geringe Anzahl aktiver Nutzer in Foren und Blogs, sowie bei Youtube und Wikipedia nach wie vor einer überragenden Mehrheit von passiven Konsumenten gegenübersteht (vgl. 149). Eine Momentaufnahme, die zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 2007 sicher zutreffend war, inzwischen jedoch – insbesondere durch die Etablierung von Facebook auch im deutschsprachigen Raum – als zumindest teilweise überholt gelten dürfte.

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Über das BuchTilmann Sutter: Medienanalyse und Medienkritik. Forschungsfelder einer konstruktivistischen Soziologie der Medien. Wiesbaden [VS Verlag] 2010, 232 Seiten, 34,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseTilmann Sutter: Medienanalyse und Medienkritik. von Rudeloff, Christian in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Oktober 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/10413
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