Ivo Ritzer, Marcus Stiglegger (Hrsg.): Neues ostasiatisches Kino

Einzelrezension
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Rezensiert von Astrid Matron

Neues ostasiatisches KinoEinzelrezension
Die Anthologie Neues ostasiatisches Kino ist ein weiterer Band der Reclam-Reihe “Stilepochen des Films”. Die Reihe, die aus einem filmwissenschaftlichen Forschungsprojekt an der Uni Mainz erwachsen ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Filmgeschichte als Stilgeschichte zu schreiben. So widmen sich die verschiedenen Bände der Serie, die etwa zum Classical Hollywood oder dem Neuen Deutschen Film bereits erschienen sind, verstärkt den ästhetischen Aspekten filmischen Erzählens und der Suche nach Gemeinsamkeiten im diversen Filmkonvolut einer bestimmten Epoche.

In Neues ostasiatisches Kino werden insgesamt 42 Filme aus Japan, Hongkong, Taiwan, China, Südkorea und Thailand in kürzeren, meist fünf- bis achtseitigen Artikeln vorgestellt. Den einzelnen Länderabschnitten ist jeweils eine Einleitung vorangestellt, die wesentliche Aspekte der jeweiligen nationalen Filmgeschichte, -industrie und -ästhetik zusammenfasst.

Die von Ivo Ritzer verfasste Einleitung zur gesamten ‘Stilepoche Neues ostasiatischen Kino‘ weist gleich zu Beginn durch diverse Filmbeispiele darauf hin, was die Schwierigkeit ebensolcher Kategorisierungen ist: “Statt dem Verbindenden dominiert das Verschiedene”, sowie: “Ein asiatisches Kino existiert nicht“ (8). Entsprechend den Begriffen der Forschung zu einer transnationalen Filmgeschichtsschreibung (bspw. Higbee/Lim 2010; Ezra/Rowden 2006; Strobel 2009; Hunt/Wing-Fai 2008) betont Ritzer, dass der Begriff eines – zumal homogenen – ‘Kulturraums‘ stets als diskursives Konstrukt zu begreifen ist. Dennoch, so stellt er fest “behält die imaginäre Gemeinschaft eines nationalen Kinos auch in einer transnationalen Ära vielfach ihre zentrale diskursive Funktion, wenn es um strategische Abgrenzungen des Lokalen vom Globalen geht.“ (9) Und zieht die für die Konzeption des Bandes maßgebliche Schlussfolgerung: “Vor diesem Hintergrund können auch heute noch ästhetische Konventionen und stilistische Konstanten identifiziert werden, die das asiatische Kino von anderen Produktionskontexten abheben.“ (9)

Die Zielsetzung des Sammelwerks hat dabei zwei Richtungen: Zum einen geht es darum, den als “hoffnungslos rückständig“ (12) beschriebenen deutschen Diskurs über asiatisches Kino anzustoßen und zu erweitern. Dies ist lobenswert und dringend notwendig. Die filmwissenschaftliche Forschung hierzulande beschäftigt sich im Zweifelsfall am ehesten mit klassischem japanischem Kino; (monographische) Publikationen zu anderen asiatischen Nationalkinematographien sind in deutscher Sprache praktisch nicht existent.1 Zum anderen weist er auf ein grundsätzliches Problem westlicher Wissenschaft hin, das auch ein westliches Reden über asiatisches Kino nicht ausnimmt: Es wird stets ein Abgrenzungsmodell angelegt, in dem ausgehend von einer vermeintlich souveränen westlichen Identität das Gesamtkonstrukt Asien stets als Alterität gedacht und beschrieben wird (z.B. bei Bordwell 2000). Diesem Ansatz will der hier besprochene Band eine offenere und weniger dialektische Sichtweise entgegensetzen und wirft daher bei der Betrachtung der Filme einen “detaillierte[n], immer wieder neu zu konfigurierende[n] Blick auf interagierende Dynamiken stilistischer Parameter in ihrem jeweiligen (inter)kulturellen Kontext“ (10).

Der detaillierte Blick, der hier beschrieben wird, entsteht vor allem durch die Einzelanalysen von teils sehr unterschiedlichen Filme, die für jedes Land unter einem Neue-Welle-Begriff subsumiert werden. Was aber heißt, was beschreibt dieser Begriff für verschiedene nationale Filmkulturen, die zudem jeweils unterschiedliche Zeiträume umfassen? Der vorliegende Band lehnt sich in seiner Verwendung an einen Bewegungsbegriff von David Bordwell und Kristin Thompson an (Bordwell/Thompson 2013), der einerseits Filme eines bestimmten Zeitraums und/oder einer Nation zusammenbringt, die stilistische und formale Merkmale gemeinsam haben, andererseits Filmemacher vereint, die eine bestimmte Produktionsstruktur und ähnliche Vorstellungen vom (andersartigen, revolutionären) Filmemachen teilen.

Am besten lässt sich das am gegebenen Beispiel Japans erläutern. In Japan wird 1959 durch ein Filmstudio die ‘Nūberu bāgu‘ – das vermeintliche japanische Äquivalent zur französischen Nouvelle Vague – ausgerufen, welches damit das Regie-Debut von Oshima Nagisa (A Town of Love and Hope) bewirbt. Als Label wird der Begriff im Folgenden auf eine Reihe von Filmen und Regisseuren gelegt, die vor allem in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren erscheinen. In Neues ostasiatisches Kino ist dieser Bogen jedoch weiter über eine Art neue Generation in den frühen 1990er Jahren bis ins Jahr 2004 des letzten besprochen Films (Nobody knows, Koreeda Hirokazu) gespannt.

Auch wenn sicherlich richtig ist, dass sich einzelne Regisseure in Stilistik und aufgrund ihrer Ausbildung auf Vorbilder aus der Frühphase des modernen japanischen Kinos beziehen, erscheint es doch problematisch, einen Epochenbegriff derart weit auszulegen. Umgekehrt umfassen die ‘Neuen Wellen‘ der anderen besprochenen Länder teils nur wenige Jahre. Auffällig ist zudem, dass für alle aufgeführten Filmnationen die ausgerufene ‘Neue Welle‘ mit Beginn der 2000er Jahre zu enden scheint (für Hongkong und Taiwan ist sie vorgeblich schon zu Beginn der 1990er beendet). Hier wäre zumindest eine einleitende Begründung dieser Vorannahme wünschenswert gewesen. Gleiches gilt auch für die Gesamtauswahl der Filme und ein Ungleichgewicht in der Länderverteilung. So werden aus Japan 13 Filme besprochen, aus der durchaus umfangreichen Filmlandschaft Südkoreas nur sechs, und Taiwan ist gar mit nur drei Werken vertreten. Unklar bleibt, ob dies durch die internationale Bedeutung der Filme, Verfügbarkeit und Expertise der entsprechenden Artikelautoren oder andere Kriterien begründet ist. Zumal einleitend beansprucht wird, so genannte ‘kanonische‘ Filme ebenso zu berücksichtigen wie ‘marginalisierte‘ – was etwa im Falle Südkoreas nicht zutrifft, da hier bekannte Produktionen besprochen werden, die bereits mehrere andere einführende (wenngleich englischsprachige) Werke zum südkoreanischen Kino erwähnen. Am Ende des Bandes stellt sich zudem die Frage, warum Thailand mit aufgenommen wurde, gehört dies doch weder geographisch noch nach einer ‘Kulturraum‘-Einordnung zum Großraum ‘Ostasien‘.

Die Qualität der einzelnen Artikel ist unterschiedlich, wie es für einen Sammelband dieses Umfangs leider häufig üblich ist. Während etwa die Besprechungen von Kisses, Rote Laterne oder Shiri jeweils eine schöne Analyse des einzelnen Films und zugleich eine gute Einordnung des Werks hinsichtlich seiner ästhetischen Elemente und Stilgeschichte in einen größeren Kontext bieten, lassen einige Texte den Fokus auf eben diese stilistischen Besonderheiten vermissen und sind vorrangig Narrationsanalysen; oder sie erinnern an Lexikonartikel mit einer reinen Aufzählung unterschiedlicher Filme eines Regisseurs. Der ebenfalls sehr gute Artikel zu Gojoe macht dann noch einmal deutlich, was eines der Hauptprobleme mit der Konzeption der ganzen Stilepochen-Reihe ist: Hier wird – in aller Kürze zwar – eine auf ästhetische Aspekte fokussierte Entwicklungsgeschichte des Gesamtwerkes Ishiis skizziert, doch der eigentliche Film findet kaum Erwähnung. Es scheint gerade aufgrund des Formats (zahlreiche sehr unterschiedliche Filme, die jeweils auf nur wenigen Seiten besprochen werden sollen) schwierig, dem formulierten Anspruch gerecht zu werden, Stilgeschichte, Nachschlagewerk und Filmführer zugleich zu sein. Insgesamt bleibt so ein Band, der informativ ist für einen Erstkontakt mit asiatischem Kino, aber wenig in die Tiefe geht und nicht immer die ästhetischen Bögen erkennen lässt, die eine Stilepoche ausmachen können.

Literatur:

  • Bordwell, D.: Planet Hong Kong. Popular cinema and the art of entertainment. Cambridge, Mass. [Harvard Univ. Press] 2000.
  • Bordwell, D.; K. Thompson: Film Art. An Introduction. New York [McGraw-Hill] 102013.
  • Bowyer, J. (Hrsg.): The cinema of Japan and Korea. London [Wallflower] 2004.
  • Ciecko, A. T. (Hrsg.): Contemporary Asian cinema. Popular culture in a global frame. Oxford [Berg] 2006.
  • Davis, D.; E. Yeh: East Asian screen industries. London [British Film Institute] 2008.
  • Ezra, E.; T. Rowden (Hrsg.): Transnational cinema. The film reader. London, New York [Routledge] 2006.
  • Gateward, F. K. (Hrsg.): Seoul Searching. Culture and Identity in Contemporary Korean Cinema. Albany, NY [State Univ. of New York Press] 2007.
  • Higbee, W.; S. H. Lim: Concepts of transnational cinema: towards a critical transnationalism in film studies. In: Transnational Cinemas, 1, 2010, S. 7–21.
  • Hunt, L.; L. Wing-Fai (Hrsg.): East asian cinemas. Exploring transnational connections on film. London [Tauris] 2008.
  • Kim, K. H.: The Remasculinization of Korean Cinema. Durham [Duke Univ. Press] 2004.
  • Shin, C.-Y.; J. Stringer (Hrsg.): New Korean Cinema. Edinburgh [Edinburgh Univ. Press] 2005.
  • Strobel, R. (Hrsg.): Film transnational und transkulturell. Europäische und amerikanische Perspektiven. München [Fink] 2009.

Links:

  1. Als englischsprachige Beispiele – einführende Werke ebenso wie detaillierte Analysen und theoretische Ansätze – ließen sich da etwa anführen: Ciecko 2006; Davis/Yeh 2008; Bowyer 2004; Gateward 2007; Kim 2004; Shin/Stringer 2005.
Über das BuchIvo Ritzer, Markus Stiglegger (Hrsg.): Neues ostasiatisches Kino. Reihe: Stilepochen des Films. Stuttgart [Reclam] 2015, 376 Seiten, 12,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseIvo Ritzer, Marcus Stiglegger (Hrsg.): Neues ostasiatisches Kino. von Matron, Astrid in rezensionen:kommunikation:medien, 19. Oktober 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18618
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