Petra Grimm; Rafael Capurro (Hrsg.): Informations- und Kommunikationsutopien

Einzelrezension
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Rezensiert von Barbara Thomaß

Einzelrezension
Utopien können eine träumerisch-eskapistische Tendenz haben – dann stellen sie entrückte Gegenentwürfe zu zeitgenössischen Lebenserfahrungen dar; oder eine vorwärtsstrebende – dann suchen sie nach Möglichkeiten, Unbilden des Gegenwärtigen durch Alternativen zu überwinden, die erst unter zu erwartenden oder zu erhoffenden zukünftigen Bedingungen zu verwirklichen sind. Ebenso verhält es sich mit Kommunikationsutopien, die an den jeweils gegenwärtigen kommunikativen Bedingungen und Erfahrungen anknüpfen und dann über sie hinaus reichen. Insofern sind Kommunikationsutopien zeitabhängig. Sie verweisen auf Defizite, die Menschen in ihrer aktuellen kommunikativen Vernetzung erfahren. So können Kommunikationsutopien ein Schlüssel zum Verständnis von empfundenen Mängeln aktueller Verständigungsprozesse sein.

Ähnlich leitet Rafael Capurro den von ihm und Petra Grimm herausgegebenen Band 7 der Schriftenreihe “Medienethik” ein: Demnach können Utopien als positive Modelle zukünftigen sozialen Lebens verstanden werden oder als rückwärts gewandte oder auch impraktikable Vorstellungen. Angesichts der Tatsachen, dass gegenwärtige medientechnologische Entwicklungen immer schon die Zukunft kommunikativer Praktiken in sich bergen und dass sich angesichts solcher Zukunftsvorstellungen die Frage nach dem Gewinn und Verlust von Lebensqualität aufdrängt, macht die Einleitung neugierig. Es wird die Lust geweckt, auf essenzielle Fragen des heutigen und zukünftigen medialen Daseins einschließlich ihrer ethischen Implikationen, die doch häufig so alltagsnah sind, Antworten und theoretische Reflexionen zu finden. Doch um die Bewertung der Aufsätze vorweg zu nehmen: Diese Neugier wird nur sehr eingeschränkt befriedigt, weil die Autoren weniger Aufschluss über Defizite und Mängel aktueller und vergangener Kommunikationsverhältnisse und der darauf aufbauenden alternativen Möglichkeiten bereit stellen, sondern vielmehr sehr subjektive Ein- und Ansichten zu oft wenig anregenden Nischenthemen geben.

Klaus Wiegerlings Darstellung zum ubiquitous computing mag noch eine aufschlussreiche Erörterung der Verheißungen und Gefahren einer Technologie sein, die alle Poren der Lebenswelt durchdringen könnte, weil er am Ende fordert, dass zu klären wäre, unter welchen Bedingungen ubiquitous computing Akzeptanz finden könnte. Doch dieser reizvolle Ansatz, aus Kommunikationsutopien Handlungsoptionen zu gewinnen, geht in den weiteren Aufsätzen verloren. Tassilo Pelligrini befragt das semantic web daraufhin, wie die Herstellung von Verständigung von Maschinensystemen im semantic Web als sozialer Prozess organisiert wird beziehungsweise werden kann. Doch bleibt die ausgefeilte Darstellung der technischen Möglichkeiten des semantic web aufgrund der viel zu kurzen Behandlung des sozio-politischen Kontextes schwer vorstellbar und damit letztlich unergiebig.

Falko Blank gelingt es in seiner Gegenüberstellung vom “Mythos Medien” und “Medienmythen” nicht überzeugend, den Bezug zum Konzept der Utopie herzustellen. Darüber hinaus arbeitet er mit einem schwer fassbaren Mythenbegriff. Infolgedessen sind die Behauptungen und Andeutungen, in denen sich die Darstellung ergeht, schwer einer rationalen Überprüfung zu unterziehen.

In Filmen werden gerne Zeitreisen unternommen und Utopien ausgebreitet, und insofern lohnt es sich, eine Betrachtung dieses Mediums in einen Band über Kommunikationsutopien aufzunehmen. Doch Hans Krah betrachtet einen Filmkorpus mit Blick auf Endzeitwelten, dessen Auswahl sich dem cineastisch nicht Versierten überhaupt nicht erschließt. Zudem endet dieser in seiner Chronologie zu früh, als dass er dem vom Herausgeber angestrebten Ziel nahe käme. Uwe Jochums Überlegungen zur “digitalen Inversion des Karfreitagszaubers” und Thomas Nissmüllers “cybergnostischer Imperativ” sind Konzepte, die so hermetisch formuliert sind, dass – vor dem Hintergrund der eingangs formulierten Erwartungshaltung – nur Hilflosigkeit übrig bleibt.

Es ist überhaupt eine Schwäche der Mehrheit der Aufsätze, dass sie sich von ihrem utopischen Gegenstand so sehr gefangen nehmen lassen, dass es ihnen nicht gelingt, eine für Uneingeweihte nachvollziehbare Gegenstandsbeschreibung zu geben. Nun mag es das Wesen der Utopie als solcher sein, dass sie im Heute (noch) nicht fassbar ist. Doch für die eingangs genannte Fragestellung nach Gewinn und Verlust an Lebensqualität durch Kommunikation wäre eine präzise Fassung der gedachten utopischen Verhältnisse und Bedingungen schon notwendig gewesen.

Der Aufsatz von Manfred Lang lässt am Ende doch noch einiges von dem erkennen, was ein Band mit dieser Thematik hätte leisten können. Sein Abriss über die Geschichte informationspolitischer Utopien endet mit dem Plädoyer, dass informationspolitische Überlegungen einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten mögen. Bei aller Relativierung, die dieser Autor seinen Überlegungen anfügt – dem ist nichts hinzuzufügen.

Vielleicht hat die Rezensentin eine zu enge Nützlichkeitsvorstellung von der Leistungsfähigkeit von Kommunikationsutopien. Daran ist, wie eingangs bemerkt, der Herausgeber nicht ganz unschuldig. Vielleicht wäre auch nur eine um mehr Klarheit bemühte Darstellung hilfreich gewesen, den faszinierenden Gegenstand überzeugender zu gestalten.

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Über das BuchPetra Grimm; Rafael Capurro (Hrsg.): Informations- und Kommunikationsutopien. Reihe: Medienethik, Band 7. Stuttgart [Franz Steiner Verlag] 2008, 161 Seiten, 23, Euro.Empfohlene ZitierweisePetra Grimm; Rafael Capurro (Hrsg.): Informations- und Kommunikationsutopien. von Thomaß, Barbara in rezensionen:kommunikation:medien, 1. März 2010, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/666
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