Jan Rommerskirchen: Prekäre Kommunikation

Einzelrezension
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Rezensiert von Max Hermanutz und Aşkin Bingöl

Einzelrezension
Jan Rommerskirchen legt eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation vor, mit der er eine praxisnahe kommunikationswissenschaftliche Theorie, insbesondere für Vernehmungen in der multikulturellen Gesellschaft, entwickeln will. Der Autor greift damit ein Thema auf, das heute eher selten von Wissenschaftlern behandelt wird, obwohl die Aussagen von Beschuldigten und Zeugen und deren Wahrheitsgehalt im Rahmen von polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen und spätestens in den Hauptverhandlungen der Strafverfahren sehr bedeutsam sind. Bei einem Bevölkerungsanteil von circa sieben Prozent Nichtdeutscher gewinnt sein Thema noch mehr an Brisanz.

Nach einer Einleitung geht er auf folgende Themenkomplexe ein:

  • Kommunikation (Kapitel 2)

Die Vernehmung als Kommunikationsprozess wird umfangreich anhand soziologischer und sprachphilosophischer Theorien dargestellt, wobei hauptsächlich die Arbeiten von Reichertz und Brandom  herangezogen werden. Die Fallbeispiele sollen dem Leser die theoretischen Begrifflichkeiten der Kommunikation in der Vernehmung verdeutlichen. Der Autor greift dabei nur auf Vernehmungssequenzen des Verhörs zurück, in denen der Beamte Vorhalte macht. Auf Aufforderungen zu einem freien Bericht an die Aussageperson geht der Autor nicht ein.

  • Kultur (Kapitel 3)

Dargestellt wird wie Individuen Rollenverhalten in Organisationen übernehmen, wobei der Bogen zur multikulturellen Gesellschaft mit historischen und aktuellen Daten gespannt wird. Wie vielfach in derartigen Abhandlungen werden die Migranten als homogene Gruppe mit einheitlicher Kultur dargestellt. Weil das nicht so ist, hinkt auch in Kapitel 5 die Ableitung, wie sich ein Polizeibeamter bei einer Vernehmung beispielsweise einem türkischstämmigen Migranten gegenüber verhalten soll.

Völlig unbeachtet bleibt, dass wir in den nunmehr 50 Jahren, in denen türkische Gastarbeiter in Deutschland leben, unterschiedliche Migrantengruppen haben, die sich teilweise aus deutscher und türkischer Kultur neue Identitäten geschaffen haben. Diese Identitäten sind ihrerseits nicht feststehend, sondern verändern sich rasant. Beobachtbar ist dies beispielsweise bei der Sprache der Jugendlichen, die aus türkischen und deutschen Wortelementen besteht. Wir haben heute weder eine Leitkultur in Deutschland, noch eine eindeutige Migrantenkultur. Eine Betrachtung migrantenspezifischer Rollenmuster bedarf deshalb einer feingliedrigeren Kategorisierung, um den Migranten als Akteur im Kontext multikultureller Vernehmungen auch tatsächlich in seiner Gesamtheit zu erfassen.  Diese Perspektive beleuchtet das Buch jedoch nur ansatzweise.

  • Vernehmungen (Kapitel 4)

Hier stellt der Autor die richtige These auf, dass der Vernehmende die Wahrheit über einen Tatvorwurf erfahren will. Der Beschuldigte kann sich entscheiden, ob er sich gegen diese Vorwürfe verteidigen und ggf. die Wahrheit verschweigen will. Diese Annahme ist jedoch unvollständig, da bei vielen Vernehmungen insbesondere Unschuldige dazu beitragen wollen, den Vernehmenden von ihrer Unschuld zu überzeugen und alles preisgeben, was sie wissen. Der Autor hebt immer wieder auf die Motivation, ein Geständnis zu erlangen ab. Diese Vorstellung herrscht heute noch vielfach in der Polizeipraxis vor. Dabei ist diese Sichtweise mittlerweile wissenschaftlich umstritten und hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung für Vernehmungen verloren. Das Ziel ist immer die Ermittlung der Wahrheit. Dieser Aspekt wird von Rommerskirchen vernachlässigt. In diesem Abschnitt wären neuere Ergebnisse beispielsweise zu Geständnissen von Kroll (2008) und der Arbeitsgruppen um Kassin et al. (2005), Vrij et al. (2009) oder Bond und DePaulo (2008), Hermanutz und Litzcke (2009) und Hermanutz et al. (2011) angebracht.

  • Vernehmungen in der multikulturellen Gesellschaft (Kapitel 5)

Die Bereiche Kommunikation und Vernehmung sind sehr umfassend dargestellt. Gleichwohl sind sie nur allgemeinwissenschaftlich abgebildet und greifen das eigentliche Thema der Kommunikation im multikulturellen Zusammenhang kaum auf.

Als Ergebnis leitet der Autor nach 254 Seiten ab, dass es wichtiger sei, zunächst eine Beziehungsebene aufzubauen und die Rolle als Ordnungshüter hinten anzustellen, weil eben ein anderer kultureller Hintergrund gegeben sei. Der Migrant identifiziere sich in dieser Anfangsphase nicht mit der Polizei als eigener Ordnungsmacht, was sich durch Ausdrucksformen wie “diese Polizei ist nicht meine Polizei” manifestiere. Die Person des Polizeibeamten als ‘Akteur im sozialen Handeln’ sei eine weitgehend unbekannte Variable in der empirischen Forschung der Vernehmungskommunikation. Das ist richtig wie ernüchternd gleichermaßen. Insofern ist Rommerskirchen uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er ein wissenschaftliches Defizit feststellt und hieraus die Notwendigkeit ergänzender empirischer Forschung für erforderlich erachtet.

Fazit

Es handelt sich um eine wichtige, originelle wissenschaftliche Abhandlung, die das eigentliche Thema allerdings inhaltlich relativ spät (ab Seite 247) konkret aufgreift. Daher scheint das Buch für die polizeiliche Praxis weniger geeignet zu sein. Sowohl aufgrund der soziologisch und sprachphilosophisch ausgerichteten Grundstruktur, dem didaktischen Aufbau, als auch bei der förmlichen, stark wissenschaftssprachlich orientierten Wortwahl handelt es sich um ein Buch, das für Akademiker wertvoll ist. Wir sehen den Mehrwert dieses Buches in der Forderung zu mehr Vernehmungen auf Bild- und Tonträgern sowohl für die Praxis als auch für die empirische Forschung selbst. Alle Forderungen von Herrn Rommerskirchen im Ausblick sind fundiert und können für zukünftige Forschungsarbeiten richtungsweisend sein.

Bei der Förderung von interkultureller Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit wird es absolut nicht ausreichen, wenn man den Defiziten mit Aus- und Fortbildung begegnet. Die Polizei partizipiert ungenügend an der Vielfalt der Menschen in Deutschland.

Diesem Anspruch wird man nicht allein mit funktionalistischen Ansätzen, wie beispielweise  mehr türkischstämmigen verdeckten Ermittlern oder bloßen Sprachmittlern und Kulturscouts, gerecht werden können. Die interkulturelle Kompetenz wird sich nachhaltig in der Polizei nur dann etablieren können, wenn  Migranten auf allen Ebenen und in allen Arbeitsbereichen vertreten sind.  Dem hochtrabenden Begriff “Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz” lässt sich nur dann eine Seele einhauchen, wenn die herkunftsspezifische Differenzierung in den Hintergrund getreten ist, ohne das die Vielfalt zu nivellieren droht.

Links:

Literatur:

  • Bond, C. F. Jr.; DePaulo, B. M. (2008): Accuracy of Deception Judgments. Pers. Soc. Psychol. Rev. 2006/10: 214-234.
  • Hermanutz, M.; Litzcke, S.M.: Vernehmung in Theorie und Praxis: Wahrheit – Irrtum – Lüge. 2. Auflage, Stuttgart [Boorberg] 2009.
  • Hermanutz, M.; Litzcke, S.M.; Kroll, O.; Adler, F.: Polizeiliche Vernehmung und Glaubhaftigkeit. Trainingsleitfaden. Stuttgart [Boorberg] 2011.
  • Kassin, S. M.; Meissner, C.A.; Norwick, R.J.: “I’d Know a False Confession if I Saw One”: A Comparative Study of College Students and Police Investigators. Law and Human Behavior, 2005, Vol. 29, No. 2, 211- 227.
  • Kroll, O.: Wahre und falsche Geständnisse in Vernehmungen. Masterarbeit Police Science and Criminology. Juristische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, 2008.
  • Vrij A.; Leal S.; Granhag P.A.; Mann, S.; Fisher R.P.; Hillman J.; Sperry K.: Outsmarting the Liars: The Benefit of Asking Unanticipated Questions. Law Hum Behav 2009, 33:159-166.

 

Über das BuchJan Rommerskirchen: Prekäre Kommunikation. Die Vernehmung in der multikulturellen Gesellschaft. Wiesbaden [VS Verlag] 2011, 289 Seiten, 39,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseJan Rommerskirchen: Prekäre Kommunikation. von Hermanutz, Max; Bingöl, Aşkin in rezensionen:kommunikation:medien, 4. Oktober 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/6314
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