Tanja Thomas (Hrsg.): Medienkultur und soziales Handeln

Einzelrezension
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Rezensiert von Marcus S. Kleiner

Thomas2008Einzelrezension
In der kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit nationalen sowie transnationalen Medienkulturen sind zumeist drei Perspektiven kaum reflektiert worden: erstens die (theoretische und empirische) Diskussion der Interdependenz von Medienkulturen und sozialem Handeln; zweitens die Verbindung von grundlagentheoretischen Reflexionen zur Medienkultur mit empirischen Analysen; drittens die Systematisierung kommunikationswissenschaftlicher Positionen zur Medienkultur sowie grundlegender Forschungsfelder. Diesen Mangel versucht der von Tanja Thomas, unter Mitarbeit von Marco Höhn, herausgegebene Band Medienkultur und soziales Handeln zu schließen – sehr materialreich und vor dem Hintergrund einer eingehenden Diskussion der einschlägigen (internationalen) Forschungsliteratur. Mit diesem Band wird sowohl ein wichtiger Beitrag zur kommunikationswissenschaftlichen Fundierung der Medienkulturforschung geleistet als auch zu ihrer stärkeren Verankerung in den Kommunikationswissenschaften.

Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass Medien bzw. Medienkulturen für das Verstehen, Ordnen, Bewältigen und Gestalten des Alltagslebens sowie im Kontext von Selbstentwürfen von konstitutiver Bedeutung sind. Tanja Thomas betont daher in ihrem “Vorwort”, dass “Medienerfahrungen und Medienhandeln mit Alltagserfahrungen und Alltagshandeln” verschränkt sind (7). Der diesem Verständnis zugrunde liegende Handlungsbegriff betrachtet, wie Tanja Thomas und Friedrich Krotz in ihrem einleitenden Beitrag “Medienkultur und soziales Handeln” betonen, “die einzelnen Handlungen als Teil von kollektiven Handlungsgefügen und als soziale Praktiken”; er setzt “an einem sozialisierten Mensch” an und existiert “in und durch Kultur und Gesellschaft” (32).

Die Bedeutung von Medienkulturen für Gesellschaft und Individuum theoretisch und empirisch zu bestimmen, wird von Tanja Thomas in ihrem “Vorwort” als Zielsetzung des Bandes formuliert: Er solle “[m]ediatisiertes soziales Handeln hinsichtlich seines Potenzials zur Reproduktion sozialer Strukturen und Beziehungen […] diskutieren” (7). Hiermit wird deutlich, dass für Tanja Thomas Medienkulturanalysen mehr als Zeit(geist)diagnosen darstellen. Um diese Zielsetzung umzusetzen und die letztgenannte These zu plausibilisieren, ist es notwendig, eine theoretische Konturierung des Begriffs Medienkultur vorzulegen.

Forschungsleitend sind in diesem Kontext drei grundlagentheoretische Konzepte, bei denen es sich um bereits seit einigen Jahren in den Kommunikationswissenschaften etablierte – nicht aber kanonisierte – Ansätze handelt: zunächst das Konzept “gesellschaftlicher Metaprozesse” von Friedrich Krotz, worunter er Globalisierung, Individualisierung, Mediatisierung und Ökonomisierung/Kommerzialisierung versteht. Dem zur Seite gestellt wird die von Andreas Hepp vorgeschlagene (kommunikationswissenschaftliche) Weiterentwicklung des Begriffs der Netzwerkgesellschaft als Gesellschaftsdiagnose durch die Beschreibungsmetaphern ‘Konnektivität’, ‘Netzwerk’ und ‘Fluss’, mit denen er eine medienübergreifende Analyse des Medienalltags und seines Wandels ermöglichen möchte. Abgeschlossen werden die grundlagentheoretischen Positionierungen durch die Cultural-Studies-Perspektive, wie sie Rainer Winter mit Fokus auf die Bedingungen widerständigen sozialen Handelns in einem grundsätzlich durch Medienkultur bestimmten Alltagsleben vorstellt und woraus emanzipatorische Möglichkeiten zur Transformation des Alltäglichen entstehen könnten. Ergänzt wird der Theorieteil durch einen Beitrag von Tanja Thomas und Friedrich Krotz (“Medienkultur und soziales Handeln”), der, neben instruktiver Begriffsarbeit (‘Alltag’, ‘Handeln’, ‘Kultur’, ‘Medienkultur’ usw.), anhand des Konzepts der “Mediatisierung” überzeugend zeigt, dass Medienkultur prozessual und nicht statisch gefasst werden muss.

Wichtig ist in diesem Kontext, dass die zuvor erwähnten grundlagentheoretischen Positionen so konzipiert sind, dass sie keinen deutschen Sonderweg der Medienkulturforschung darstellen, sondern von ihnen auch Impulse in die internationalen Publikationskontexte ausstrahlen könnten.

Interessanterweise spielen einflussreiche medienkulturwissenschaftliche Positionen, wie zum Beispiel die von Siegfried J. Schmidt, die lange Zeit die Auseinandersetzung der Kommunikationswissenschaften mit der Medienkultur mitbestimmt hat, im Band keine Rolle mehr. Darüber hinaus werden auch keine aktuellen Positionen der kommunikationswissenschaftlich orientierten Popkulturforschung, wie etwa von Christoph Jacke, berücksichtigt. Eine explizite Abgrenzung oder der Hinweis, eine zusätzliche Position zu den beiden letztgenannten Richtungen der Medienkulturforschung einnehmen zu wollen, findet sich nicht.

Neben den zuvor beschriebenen grundlagentheoretischen Fundierungen werden zwölf empirische Untersuchungsfelder zur Medienkultur präsentiert, die den Zusammenhang von Medienkultur und sozialem Handeln größtenteils eindringlich veranschaulichen: zwischenmenschliche Beziehungen (Jutta Röser und Nina Großmann; Christine Dietmar), Jugend-/Popkulturen (Katja Scherl; Marco Höhn), Alltagsdramatisierung (Udo Göttlich), Reality-TV (Elisabeth Klaus), Medienevents (Waldemar Vogelgesang), Körperpraktiken und Selbsttechnologien (Gabriele Klein; Tanja Thomas), Werbung (Michael Jäckel), Fernsehgenre (Gerd Hallenberger), Politikvermittlung (Jörg-Uwe Nieland und Ingrid Lovric). In diesen Beiträgen gibt es eine schwerpunktmäßige Rückbindung an die Studien von Friedrich Krotz und zum Teil an die Cultural Studies, kaum jedoch an die Überlegungen von Andreas Hepp.

Kritisch anzumerken sind vier Aspekte:

  • Erstens ist die ausschließliche Fokussierung auf sozial- und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven zur Medienkulturforschung nur bedingt tragfähig, denn das Verstehen von Medienkulturen bedarf eines grundlegend transdisziplinären Forschungsdesigns. Es lässt sich nicht von einer Disziplin exklusiv vereinnahmen.
  • Zweitens gelingen die Transferleistungen von Theorie und Empirie nur teilweise. Dies liegt vor allem daran, dass in den empirisch ausgerichteten Beiträgen zu wenig “close reading” des Materials stattfindet. Eine empirische Auseinandersetzung mit Medienkulturen muss den Weg von den Phänomenen nehmen. Sie darf diese Phänomenbetrachtung nicht von der Forschungsliteraturlage bestimmen lassen.
  • Drittens wäre es interessant gewesen, die grundlagentheoretischen Positionen von Friedrich Krotz, Andreas Hepp und Rainer Winter stärker miteinander in einen Dialog zu bringen.
  • Viertens wäre eine abschließende Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse des Bandes sowie ein Ausblick auf die mögliche Weiterentwicklung der diskutierten Beiträge wünschenswert gewesen.

Diese Kritik soll aber nicht den genuinen Forschungsbeitrag überblenden, den der Band Medienkultur und soziales Handeln leistet. Es ist zu erwarten, dass er in den Kommunikationswissenschaften ein stärkeres Bewusstsein für die zentrale Bedeutung der Auseinandersetzung mit Medienkulturen schafft und diese weiter vorantreibt. Darüber hinaus wird er auch die Betrachtung von Medienkultur in Studium und Lehre bereichern.

Links:

  • Verlagsinformationen zum Buch
  • Webpräsenz von Tanja Thomas an der Universität Lüneburg
  • Webpräsenz von Marcus S. Kleiner an der Universität Siegen
Über das BuchTanja Thomas (Hrsg., unter Mitarbeit von Marco Höhn): Medienkultur und soziales Handeln. Reihe: Medien – Kultur – Kommunikation. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2008, 321 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseTanja Thomas (Hrsg.): Medienkultur und soziales Handeln. von Kleiner, Marcus S. in rezensionen:kommunikation:medien, 8. Oktober 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/465
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